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Alt 27.01.2017, 09:30
#6
Stina Vandrak
Reisender
 
Registriert seit: 18 Sep 2016
Beiträge: 234
Im Schneidersitz sitzt sie auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Tagebuch liegt offen auf ihrem Schoß. Ein Stift zwischen den Seiten verhindert, dass die aufgeschlagene Seite umblättert. Die oberen Glieder ihres Zeige- und Mittelfingers sowie des Daumens ihrer rechten Hand sind vom Kohlestift schwarz verfärbt und in der linken oberen Ecke der leeren Seite wurden kleine schwarzgraue Herzchen gezeichnet.

Ihr Blick sieht in den Raum hinein ohne einen gewissen Punkt zu fixieren. Stattdessen ziert ein verträumtes Lächeln ihre Lippen. Die sommersprossenbesetzten Wangen haben einen gesunden, roten Farbton. Ein Schimmer liegt in ihren hellgrünen Augen während sie ihren Gedanken nachhängt.

„So fühlt es sich also an, wenn man küsst…“

Das Mädchen ist 15 Jahre alt. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Steckt mitten in der Pubertät und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Wo sie sich gestern noch wie ein Kind fühlte und auf Bäume klettern wollte, fühlt sie sich am nächsten Tag wie eine erwachsene Frau, der man aus Höflichkeit die Tür aufhalten sollte. Dinge, um die sie sich nie geschert hat. Die Hosen, die im Winter noch so gut gepasst hatten, kriegt sie nur noch mit Mühe geschlossen. Der Körper schmerzt. Er verändert sich. Bekommt Kurven. Der schmale Strich in der Landschaft wird Teil ihrer Vergangenheit. Hüfte und Taille prägen sich aus. Der Busen wächst.

Doch nicht nur der Körper verändert sich. Auch in ihrem Kopf spinnt es herum. Und so fühlt sie sich zerrissen, weiß nicht wie sie klar denken soll. Küssen, das tun doch nur Erwachsene – und sie fand es immer ekelig. Sie erinnert sich an die Ulkerei, dass man sich beim Küssen das Gehirn gegenseitig raussaugen könnte und macht die eigene Erfahrung, dass es nicht so ist. Im Gegenteil. Eigentlich fühlt es sich ganz gut an.

Ein verhaltenes, deutlich mädchenhaftes, helles Kichern dringt von ihren Lippen und sie senkt den Blick auf ihr Tagebuch. So vieles vertraut man diesem Buch an. Aber auch den ersten Kuss? Was würde geschehen, wenn jemand dieses Buch finden und darin lesen würde. Ihren Geheimnissen auf den Grund ginge? Es war eine Gefahr alles niederzuschreiben. Erst recht jetzt, da sie nicht mehr alleine in ihrem Haus wohnte.


Liebes Tagebuch,

du wirst nicht glauben, was passiert ist. Baki ist da! Mein Bruder Baki! Er ist so… groß geworden, älter und hat eine schreckliche Frisur. Doch ich beginne am Anfang.

Ich saß also mit Korad in der Bärenhöhle. Wir quatschten über dies und das. Niemand sonst war da, als plötzlich die Tür aufging und ein Nordländer reinstapfte. Ich nahm erst gar keine Notiz von ihm. Aber plötzlich sagte der Fremde meinen Namen. Stina! Und ich sah verwundert zu ihm rüber, denn woher sollte er mich schon kennen?

Und dann sah ich da Baki stehen. Meinen Bruder und Dauergast in meinen Albträumen. Wenn es wenigstens Jaric oder Terk gewesen wären. Die hatten mich zwar auch oft geärgert, aber Baki war immer der Schlimmste von allen gewesen. Ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich vor Begeisterung losstürmen, ihn um den Hals fallen, mich freuen dass er da ist und somit ein Teil meiner Familie nun im Herzogtum angekommen war? Nein, das konnte ich nicht. Ich entschied mich dafür ruhig zu bleiben und erst mal abzuwarten, wie er sich verhalten würde.

Kurz nach seiner Ankunft kam dann auch mehr Leben in die Bude. Ana kam herein und auch Abris und Klara waren plötzlich da. Alles war laut und irgendwie hektisch. Alle redeten durcheinander. Ich kam kaum noch mit. Baki hingegen amüsierte sich prächtig. Als Ana mich zu sich an die Theke rief, bekam ich gerade noch mit, wie er anfing Geschichten aus unserer gemeinsamen Kindheit zu erzählen. Bei den Ahnen… wie peinlich! Und das auch noch vor Korad. Ich wäre am Liebsten im Erdboden versunken. Dann erzählte er noch von seinen Reisen, wo er überall gewesen war. In den eineinhalb Jahren, die ich ihn nicht mehr gesehen habe, ist er ganz schön viel rumgekommen. Aber am Besten hat es ihm wohl in diesem Busch gefallen. Denn da erzählt er ganz oft von und am Häufigsten von der Frau, die er da kennengelernt hat. Aber wie er die Frau beschreibt… nein, das kann ich hier wirklich nicht aufschreiben. Ich bin ja neugierig, ob sie seine Freundin war. Aber das kann ich ihn nun wirklich nicht fragen! Nachher denkt er noch, ich würde mich für so etwas interessieren!

Jedenfalls hat er wohl beschlossen erstmal ein paar Tage oder Wochen hier zu bleiben. Ich habe das zähneknirschend zur Kenntnis genommen. Hoffentlich plaudert er keine weiteren peinlichen Sachen aus. Das geht die Leute nun echt nichts an. Der soll sich mal benehmen. Aber er hat mir ja versprochen, dass er sich geändert hat. Er ist älter geworden, 20 schon und auch weiser wie er sagte. Und außerdem ist er mein Bruder und gehört damit zu meiner Familie. Irgendwie freue ich mich doch, dass er hier ist. Nun bin ich nicht mehr so allein. Er war wohl auch sichtlich überrascht mich hier anzutreffen. War er doch immer davon ausgegangen, dass ich, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, wieder nach Hause gegangen bin. Dass ich auf eigene Faust weiter losgezogen bin, davon ahnen meine Brüder ja nichts. Und schon gar nicht mein Vater!

Ich hab ihn nun in mein Haus aufgenommen. Er war sichtlich beeindruckt. Kann er auch sein! Immerhin habe ich mir das ganz alleine erarbeitet und verdient. Das soll er erstmal nachmachen! Aber muss er ja nicht. Mein Haus ist groß genug. Wir werden es so herrichten, dass jeder sein eigenes Zimmer bekommt und dann können wir hier gemeinsam wohnen. Ich glaube, das wird ganz spaßig.

Und wenn nicht, dann kenne ich noch einen Ort wo ich Zuflucht suchen kann und mich keiner findet. Mit einer Ausnahme.

Stina
im Estif 1322
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