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Alt 20.06.2017, 18:55
#7
Stina Vandrak
Reisender
 
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Eigentlich liebte sie die See. An der Reling zu stehen, die Nase in den Wind zu halten, den Wellen zuzusehen, wie sie sich am Bug brachen – das gehörte zu ihrer Welt. Damit war sie aufgewachsen. Früher, als sie noch ein Kind war, hatte sie oft die großen Schiffe beobachtet; war sogar auf ihnen mitgereist. Jetzt weckte die Überfahrt die alten Erinnerungen und damit den Schmerz.

Sie lag unter Deck in ihrer Koje. Zusammengerollt wie eine Katze, die Decke über den Kopf gezogen, schloss sie die Außenwelt von sich aus und harrte doch still darauf, wann das Schiff endlich in den Hafen von Britain einlaufen würde. Die letzten Tage waren schrecklich anstrengend gewesen, hatten ihre Gefühlswelt durcheinander gewirbelt und sie brauchte Zeit das Erlebte zu verarbeiten.

Alles hatte begonnen, als Jaric plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte. Ihr Bruder Jaric. Bei den Ahnen, war das lange her, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Es mussten mittlerweile drei Jahre vergangen sein. Doch die Freude über seinen Besuch sollte nicht lange währen. Nach einer innigen Umarmung der Geschwister nahm sie zum ersten Mal seine ernste Miene wahr und schnell wurde ihr klar: der Grund für seinen Besuch war kein erfreulicher.

Ihrem Vater ging es schlecht. Sehr schlecht. Er lag im Sterben. Stina fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Ihr Vater war ein Bär von einem Mann! Hochgewachsen, mit einem breiten Kreuz. Beine so dick wie Baumstämme. Er war überall behaart und hatte eine tiefe, brummende Bassstimme. Und dieser Mann sollte bald seinen Weg zu ihren Ahnen antreten? Die junge Frau hatte keine Zeit sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Jaric trieb sie zur Eile an. Das Schiff würde bald ablegen und so schaffte es Stina gerade noch ein paar Sachen zusammenzupacken und Korad eine Nachricht auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Sie hoffte, dass er sie finden würde. Er musste einfach, sonst würde er sich noch Sorgen machen. Und wenn er den Brief nicht fand, dann vielleicht Silena. Sie könnte ihm dann Bescheid sagen. Ja, das war ein guter Plan. So war sie zweifach abgesichert. Korad würde auf jeden Fall erfahren, dass sie in ihre Heimat reisen musste – doch würde er ihre Eile auch verstehen?

Die Reise war lang und zerrte an ihren Nerven. Die Angst und die Ungewissheit, ob sie noch rechtzeitig ihr Heimatdorf erreichen würden oder nicht, schwebte die ganze Zeit unausgesprochen zwischen ihnen. Nachdem ihr Schiff angelegt hatte, liehen sie sich Pferde und ritten weiter. Dabei wurde es zunehmend kälter und Stina begann es zu frösteln. Doch dies lag nicht nur an den fallenden Temperaturen, auch das anhaltende Schweigen machte ihr zu schaffen.

Stina wollte nicht daran denken, wie es wäre, wenn sie zu spät kommen würden. Drei Jahre waren vergangen in denen sie ihren Vater nicht mehr gesehen hatte. Sie war auch ohne ihn gut zurechtgekommen. Vielleicht sogar besser, als sie es sich je erträumt hätte. Sie hatte sich ein neues Leben im Herzogtum Britannia aufgebaut, hatte einen festen Freund, neue Freundschaften geschlossen und war ein vollwertiges Mitglied der Legion. Und doch… das Wissen, dass ihr Vater bald sterben würde, dass es keine Heilung für ihn gab, quälte sie ungeheuerlich. Die Gewissheit, dass sie jederzeit, wenn ihr alles zu viel würde, zu ihm zurückkehren könnte, war dann nicht mehr gegeben. Dann wäre sie auf sich allein gestellt. Sie, eine junge Frau im Alter von 16 Jahren.

-

Und dann kam der Tag an dem Jaric und sie ihr Heimatdorf erreichten. Eigentlich sah alles aus wie immer. Als wäre es gestern gewesen, dass sie zusammen mit ihren Brüdern das Dorf verlassen hatte. Doch es herrschte eine allumfassende, bedrückende Stimmung. Die kleinen Lagerfeuer hier und dort waren verwaist, man sah keine Leute zwischen den Hütten hin und her eilen. Selbst die Hunde waren still. Stinas Magen rebellierte. Sie waren zu spät.

Langsam und leise setzen sie ihren Weg durch das Dorf fort. Stina fühlte sich wie ein Eindringling. Sie steuerten auf das große Langhaus im Ortskern zu und hier trafen sie dann auch auf die Mehrheit der Einwohner. Die vielen Blicke, die auf der jungen Frau ruhten, waren ihr unangenehm. Da war keine Spur von Wiedersehensfreude. Sie fühlte sich gar kritisch beäugt. Sie war hier geboren und hatte hier eine unbeschwerte Kindheit verbracht bis sie im Alter von 13 Jahren mit ihren Brüdern ausgezogen war. Nun fühlte sie sich hier fremd. Doch sie konnte es den Leuten nicht verübeln. Wer in diesem Dorf geboren wurde, starb auch hier. Wer länger als einen Jahreslauf fort war galt zunächst als Fremder, bis er seinen Rang und das Vertrauen wieder gewonnen hatte.

Erst als sie Jarics schwere Hand auf ihrer Schulter spürte, wurde ihr bewusst, dass sie wie angewurzelt in der Tür stehen geblieben war. Ihr Bruder lotste sie weiter, zwischen den Leuten hindurch, bis sie am Ende des Langhauses auf eine kleine Kammer stießen. Jaric öffnete die Tür und gemeinsam betraten sie den Raum.

In der Kammer war es drückend warm und düster. Die Fenster waren mit schweren Ledervorhängen verhangen. Es roch unangenehm. Nach kalten Schweiß und abgebrannten Räucherstäbchen, deren blauer Qualm sich unter der Zimmerdecke sammelte. Eine Frau erhob sich von einem kleinen Schemel der in der Ecke stand. „Gut, dass ihr endlich da seid. Er spricht schon mit seinen Vätern,“ sprach sie leise und verließ das Zimmer. Die Geschwister wechselten einen kurzen Blick, dann nickte Jaric Stina zu. Der Kloß in ihrem Hals wuchs als sie an das Lager aus Fellen heran trat. Der Weg war lang und anstrengend gewesen, doch dies war nichts im Vergleich zu den letzten Schritten. Sie hatte so viel Zeit gehabt sich vorzubereiten. Und jetzt fühlte sie sich nicht bereit. Was sollte sie überhaupt sagen? Wollte ihr Vater sie überhaupt sehen? Sie war damals nicht zurückgekehrt, hatte ihr Versprechen gebrochen. Würde ihr Vater ihr das verzeihen?

Stina erschrak, als sie dem Mann ansichtig wurde, der dort auf den dunklen Fellen lag. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, den sie einst Vater genannt hatte. Er war kein Bär mehr. Sein Haar war jetzt weiß und die Haut grau vom fehlenden Sonnenlicht. Seine Muskeln waren dahin geschmolzen, die Haut hing schlaff herunter, als sei die Hülle nun zu groß für seinen Körper. Ganz still lag er da, rührte sich nicht und schien auch nicht zu mehr zu atmen. Vorsichtig kniete sie sich an seine Seite und betrachtete sein Gesicht. Obwohl es durch die Krankheit gezeichnet so verändert aussah, erkannte sie doch noch die Ähnlichkeit. Die Gesichtszüge die sie gemein hatten; die sie von ihm geerbt hatte. Sie hätte ihn als Vater niemals leugnen können. Jeder konnte es sehen. Sie war seine Tochter. Sie war Vladis‘ Tochter. Vladisdottir.

Sie hob den Blick zu Jaric der in der Tür stehen geblieben war. Er hatte eine Hand vor den Mund gelegt und in seinen Augen stand die gleiche Fassungslosigkeit, die Stina am ganzen Leib spürte. Sie wusste nicht, in welchem Zustand ihr Vater gewesen war, als Jaric ausgezogen war um sie zu holen, aber seinem erschütterten Blick nach zu urteilen, hatte er noch Hoffnung gehabt. Hoffnung, die nun erloschen war. Er wandte sich um, verließ das Zimmer und ließ Stina allein mit ihrem Vater zurück.

Die junge Frau beugte sich über ihren Vater, strich mit den Fingerspitzen vorsichtig eine Haarsträhne zur Seite, dann streichelte sie seine Wange. Er fühlte sich kühl an - aber da war noch Leben. Stinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie erlaubte es sich nicht oft zu weinen. Sie war ein starkes Mädchen. Doch wenn es um ihre Liebsten ging, dann brachen die Dämme. Mit tränenerstickter Stimme flüsterte sie ihrem Vater zu, wie leid es ihr tat, dass sie ihn im Ungewissen gelassen hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Reise, von ihrem Werdegang. Dass er stolz auf sie sein konnte. Sie erzählte ihm sogar von Korad, dass sie ihn liebte und dass er ihn gewiss mögen würde. Und sie bat um seinen Segen, sollte Korad ihr verzeihen, nachdem sie ihn einfach, ohne große Erklärungen, nur mit einer Nachricht abgespeist, verlassen hatte. Als sie nichts mehr zu berichten wusste, erzählte sie ihm die Geschichte, die er so gern hörte und sie sang leise für ihn. Sie wusste nicht, ob ihr Vater sie noch hören konnte. Sie sah, wie seine Augen unter den geschlossenen Lidern aufgeregt hin und her rollten. Sie ergriff seine Hand, schob ihre schmale Hand in seine große. Erschöpft bettete sie den Kopf auf seine Brust und lauschte dem schwächer werdenden Atem. So verharrte sie die ganze Nacht.

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Stina stand etwas abseits von den anderen. Drei Tage waren vergangen und sie fühlte sich immer noch fremd. Dies war nicht mehr ihr zu Hause. Ihr Herz wohnte nun woanders und sie fühlte, wie es sie mehr und mehr zu diesem Ort zurückzog. Man hatte sie am nächsten Morgen schlafend auf der Brust ihres Vaters vorgefunden. Er musste in der Nacht heimgegangen sein. Stina hatte es gespürt und doch war sie nicht von seiner Seite gewichen. Sie hatten den Traum, in dem er ihr noch einmal über das rote Haar gestreichelt und leise ihren Namen geflüstert hatte, festhalten wollen. Es war ihr nicht möglich zu sagen, ob es in Wirklichkeit geschehen war. Aber sie hielt diesen Moment in ihrem Herzen fest.

Sie sah dem kleinen Boot nach, welches auf den Wellen schaukelte. Ihr Vater lag darin aufgebahrt, in seine besten Kleider gehüllt, umringt von seinen liebsten Waffen und anderen kleinen Gaben. Dies war seine letzte Fahrt. Das Boot würde ihn über den Horizont tragen bis er die goldenen Tore erreichte, die zu seinen Ahnen führen würden. Dort würde er mit ihnen zusammen zechen und über die Geschicke ihrer Kinder wachen. Ein tröstender Gedanke.

Wenige Stunden später saß Stina wieder im Sattel. Sie hatte sich von Jaric verabschiedet, dem nun ein schweres Erbe bevor stand. Er hatte versucht sie zum Bleiben zu bewegen, doch sie wollte nicht. Sie lud ihn ein, sie im Herzogtum besuchen zu kommen und war sich doch fast sicher, dass er es nicht tun würde. Dieser Abschied war ein Lebewohl.

Der Rückweg zog und zog sich und bereitete ihr Magenschmerzen. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde, wenn sie zurück war. Sie wusste nur, was sie unbedingt wollte. Aber würde ihr Wunsch auch in Erfüllung gehen? Die Ungewissheit lastete schwer auf ihren Schultern, ließ sie nachdenklich werden. Sie knüpfte auf dem Heimweg keine weiteren Kontakte. Und als sie das Schiff bestieg, welches sie zurück nach Britain bringen würde, verschwand sie sofort unter Deck in die kleine Kajüte.
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