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Terra Mystica | Foren
Alt 17.11.2016, 11:11
Vladis' Tochter
#1
Stina Vandrak
Reisender
 
Registriert seit: 18 Sep 2016
Beiträge: 234
Ohne Unterlass prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben während der sturmgepeitschte Wind um das Haus pfiff. Hohe, schwarzgrüne Wolkenberge hatten sich weit in den Himmel aufgetürmt, tauchten das Land in Dunkelheit und verdeckten die Sicht auf die Sterne. Es war ungemütlich und empfindlich abgekühlt. Nach den Herbststürmen würde es nicht mehr lange dauern, bis der Winter Einzug halten würde um das Land unter einer weißen Schicht aus Schnee und Eis zu begraben.

Ein junges Mädchen saß mitten in ihrem Haus im Schneidersitz auf dem Holzboden. Es hatte sich eine grobe Wolldecke umgelegt, die auch noch ihren Kopf bedeckte. Wie eine kleine Königin kam sie sich in diesem „prächtigen Gewand“ vor. Ihre noch kindlich geprägte Vorstellungskraft kannte keine Grenzen. Rechts und links neben ihr lagen ein großer und ein kleiner Hund. Ihre Jagdhunde. Den kleinen, den sie bei Herrn Fenthe von ihrem ersten ersparten Gold gekauft hatte und der große, den sie im Fenisthal im Keller eines verlassenen Hauses aufgestöbert hatte. Ganz abgemagert war er zu seiner Zeit gewesen und mit Mühe und viel Geduld, hatte sie ihn wieder aufgepäppelt, sodass er zu seiner alten Kraft hatte zurückfinden können.

Auf ihrem Schoß ruhte ein aufgeschlagenes Buch. Es war noch ganz neu, mit leeren Seiten. Sie hatte sich vorgenommen diese zu füllen. Zwar war sie nicht die geborene Geschichtenerzählerin, aber ein paar ihrer Erinnerungen wollte sie dann doch festhalten. Doch wie fing man an in so ein Buch zu schreiben? Nachdenklich fuhr sie sich mit dem Ende des Kohlestiftes über ihren sommersprossenbesetzten Nasenrücken und hinterließ dort einen grauschwarzen Strich. Ratlos sah sie die Seiten an, dann wandte sie den Blick zur Seite und sah zum Fenster rüber. Ein Wetterleuchten erhellte für einen Moment die gesamte Wolkenbank und tauchte den Wald draußen in gleißendes Licht. Unbehaglich rutschte sie auf dem Hosenboden herum. Dieses Wetter war ihr nicht geheuer. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die leeren Seiten des Buches, dann begann sie zu schreiben…


Mein Name ist Stina, Tochter des Vladis und ich bin 14 Jahre alt. Im Nugor des Jahres 1321 erreichte ich das Herzogtum Britannia und seitdem lebe ich hier. Ich stamme aus den Fjordlanden, die weit im Norden auf dem Festland liegen. Schnee und Eis bedecken dort das ganze Jahr über in luftigen Höhen die Berge und in den Tälern schmilzt der Schnee nur im Sommer. Dann speist er die vielen, vielen Flüsse und Bäche, die sich durch die grünen Wiesen und Auen winden. In den Fjordlanden ist es kalt. Selbst im Sommer wird es nicht richtig warm. So eine Hitze, wie diesen Sommer in Britannia habe ich noch nie erlebt! Das war ganz schön heiß. Ich schreibe in dieses Buch um ein paar Erinnerungen zu sammeln und zu schreiben, wie ich mich fühle. Im Augenblick friere ich. Eigentlich bin ich die Kälte ja gewohnt, aber hier in Britain ist die Kälte irgendwie anders. Es ist so nass dabei. Meine Kleidung saugt die Kälte und Nässe auf und diese kriecht mir tief in die Knochen. Ekelig ist das. In meiner Heimat war das anders. Da war die Kälte gut. Sie war trocken. Und die Luft war herrlich frisch und klar. Mit der Kälte, die hier im Herzogtum herrscht, hat das nichts gemein.

Vor einer guten Woche habe ich noch im Fenisthal gelebt. Fenisthal ist ein kleiner Ort umgeben von vielen Wäldern und fernab vom Weltgeschehen. Es ist dort nicht so laut und voll wie in Britain, der Hauptstadt des Herzogtum. Hier habe ich Covan kennengelernt. Er ist ein Schneider und eigentlich adelig. Aber das vergisst man ganz schnell, weil er so herzlich normal und flapsig ist. Er hat auch eine Frau und zwei kleine Kinder. Covan hat mir damals eine Aufgabe gegeben und mich dabei unterstützt Fuß zu fassen. Er ist also Schuld daran, dass ich mich in den ersten Wochen im Fenisthal eingerichtet hatte. Aber nun ist er mit seiner Familie nach Britain gezogen in deren altes Haus und da ich Covan gut leiden kann und es mir allein im Fenisthal dann doch zu langweilig ist habe ich ebenfalls Ausschau nach einem Haus in Britain gehalten. Und in diesem sitze ich nun. Es hat meine ganzen Ersparnisse verschlungen. Deshalb sitze ich jetzt auf dem Boden, weil ich mir noch keine Möbel leisten kann. Aber das wird schon noch.

Aber Covan ist nur eine von vielen Bekanntschaften die ich schon machen konnte. Da wäre auch noch Valka zu erwähnen. Valka ist der Leiter der Legion von Schwert und Feder. Und er ist ein Waldläufer, der noch dem alten Weg folgt. So hat er es mir erzählt. Und ich könnte ihm stundenlang zuhören, weil ich das alles so spannend finde! Ich möchte auch mal so wie Valka werden. Und deshalb übe ich das Bogenschießen ganz viel und höre mir alles, was er sagt, ganz genau an. Mit Valka habe ich sogar schon ein Abenteuer unternommen. Wir sind mit seinem Boot gefahren und haben eine Höhle erkundet. Sowas machen die Leute bei der Legion. Abenteuer bestehen. Vielleicht gehöre ich auch irgendwann mal dazu wenn ich größer bin.

Dann sind da noch Abris und seine Frau Klara. Die haben vor Kurzem geheiratet und leben nun in Cove. Und ich war zur Hochzeitsfeier eingeladen! Ich war noch nie auf einer solchen Hochzeitsfeier. Ich hab den beiden zwei warme Felle geschenkt, damit sie es im Winter nicht so kalt haben und sich damit zudecken können. Außerdem gab es richtig gutes Essen auf der Feier. Klara kann ganz toll kochen. Ich brauche unbedingt das Rezept für ihren Apfelkuchen. Dann backe ich auch mal einen. Irgendwann. Wenn ich eine Küche habe…

Wen kann ich noch erwähnen? Im Fenisthal, wo ich einige Zeit gewohnt habe, habe ich auch Lea kennengelernt. Lea ist ebenfalls eine Jägerin und hat mir Tipps gegeben, an welche Bogenmacher ich mich wenden kann, wenn ich einen Bogen und Pfeile brauche. Außerdem hat Lea die wundervolle Idee gehabt eine Jagdhütte zu errichten, in der alle Jäger und Reisende Rast einlegen können um Schutz vor dem Wetter zu suchen oder aber um sich eben auszuruhen. Hier bin ich auch zum ersten Mal Korad begegnet. Der war irgendwie schlecht gelaunt, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, aber inzwischen weiß ich auch warum das so war. Korad tut mir manchmal ein bisschen leid. Er hat einen ganz berühmten Vater und alle erwarten von ihm, dass er in seine Fußstapfen tritt. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er deshalb nun besonders schnell erwachsen werden muss. Er ist sogar inzwischen bei der Garde und macht eine Ausbildung. Wenn ich ihn in seiner Uniform sehe, wirkt er manchmal ganz schön ernst. Aber mit ihm kann man auch Unfug reden und lustig sein und das finde ich dann wieder schön.

Das sind nur ein paar Leute, mit denen ich schon Kontakt hatte. Aber da sind noch mehr. Viel, viel mehr! Aber wenn ich die jetzt alle aufschreiben würde, dann wäre das Buch schon voll.

Alles in Allem würde ich sagen, dass ich mich ganz gut in Britannia eingelebt habe. Es gefällt mir hier trotz des unbeständigen Wetters. Zwar bin ich mit meinem Brüdern damals zusammen aufgebrochen um dieses komische Vogelwesen zu suchen, von dem der Geschichtenerzähler in unserem Dorf erzählt hat, aber inzwischen suche ich gar nicht mehr richtig danach. Hier gibt es auch so genug Sachen zu entdecken!

Und doch… irgendwie fehlen mir auch meine Heimat und meine Familie. Ich vermisse den Tanz der Nordlichter am Firmament. Den Schleier aus verschiedenen Grün- und Blautönen. Und auch die Sterne habe ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen! Jeder Einzelne einer meiner Vorfahren und Ahnen, die zusammen an einem Tisch sitzen, lachen, speisen und dabei doch immer auf uns hier unten aufpassen. Jeden unserer Schritte verfolgen. Ich vermisse meine Brüder. Auch wenn sie mich so oft geärgert haben, war es doch meistens lustig mit ihnen. Und ich vermisse Vater! Er weiß nicht mal, dass ich alleine unterwegs bin. Das würde ihm gar nicht gefallen. Hätte ich zurückkehren sollen, als meine Brüder sich trennten und in verschiedene Himmelsrichtungen weiter zogen? Zurück in das Dorf? In den alten Trott? Vater hätte das erwartet. Ein junges Mädchen wie mich, sein Nesthäkchen, will er bestimmt nicht allein in der Fremde wissen. Aber ich bin ja nicht allein! Ich habe Rubel und Tikaani und Anuka - und dann sind da noch meine anderen Freunde. Mit denen werd‘ ich schon alles schaffen. Das zeig ich Euch!

Stina
im Ronox 1321
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 28.11.2016, 15:01
#2
Stina Vandrak
Reisender
 
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Beiträge: 234
Die Zeit der Herbststürme war vorbei, der Winter hatte Einzug gehalten. Dicke Schneeflocken fielen vom wintergrauen Himmel und deckten das Land mit einer weißen, pulverartigen Schicht zu, die sämtliche lauten Geräusche verschluckte und alles ganz leis‘ werden ließ. Binnen weniger Stunden hatte der dichte Schneefall das Herzogtum in ein Wintermärchen verwandelt und es war kein Ende in Sicht. Die Flocken rieselten unablässig aus den Wolken und die Temperaturen sanken weiter.

Gut gelaunt stapfte das Mädchen in ihren rosafarbenen Schweinelederstiefeln durch den Schnee, welcher bei jedem ihrer Schritte knatschende Geräusche von sich gab. Sie liebte den Winter und sie liebte den Schnee. Den Kopf in den Nacken gelegt versuchte sie mit der Zunge einzelne Schneeflocken aufzufangen. Hier und da machte sie einen Sprung um an ein besonders großes Exemplar heranzukommen. Ihr Gesicht war bereits von der Kälte gerötet, doch bis zu Hause war es nicht mehr weit. Wer das Mädchen beobachten konnte, mochte vielleicht annehmen, dass sie verrückt geworden sei. Dabei blühte sie jetzt nur so richtig auf. Denn dies war ihre Jahreszeit!

Hundegebell begrüßte sie als sie mit kalten Fingern die Tür aufschloss und in ihr Haus trat. Der Ofen zu ihrer Linken spendete noch ein wenig Restwärme und sie streckte sogleich die Hände aus um sich ein wenig zu wärmen, während die beiden Hunde um ihre Beine tollten. Als das Gefühl in ihre klammgefrorenen Finger zurückkehrte, kraulte sie den Hunden die Ohren und ein Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie sich im Raum umsah. In den letzten Tagen hatte sich viel getan und sie war ungeheuer stolz darauf! Ihr Haus war nicht mehr länger ein leerer Raum. Nein, die Handwerker hatten ganze Arbeit geleistet. Wände waren hochgezogen worden, Zimmer entstanden. Sie hatte eine Küche einbauen lassen und endlich hatte sie auch Möbel! Sie musste nicht länger auf dem Boden sitzen – jetzt hatte sie sogar die Qual der Wahl. Begleitet von ihren Hunden ging sie rüber in die Wohnstube wo sie sich von ihrer Winterkleidung befreite. Mit ein paar Handgriffen schichtete sie etwas Holz im Kamin auf und verteilte etwas Zunder zwischen den Scheiten um ein kleines Feuerchen zu entfachen. Als Wärme den Raum erfüllte rollten sich die Hunde zufrieden vor dem Kamin zusammen und schon wenig später war ihr leises Schnarchen zu hören. Das Mädchen aber setzte sich mit einem Buch in den nächstbesten Polstersessel und machte es sich darin gemütlich. Sie blätterte in dem Buch bis sie zu einer neuen leeren Seite fand, dann begann sie zu schreiben.


Liebes Tagebuch,

ich habe ein Abenteuer erlebt. Ein richtig Tolles! Zusammen mit Valka, Ana, Templar und Korad bin ich auf die weite See hinaus gesegelt. Eigentlich war das ganz schön leichtsinnig von uns, denn das Wetter war nicht gerade optimal, aber wir wollten auch nicht mehr bis zum Frühjahr warten. Die Ahnen haben auf jeden Fall auf uns aufgepasst, denn der Schnee setzte erst ein, als wir schon längst wieder zu Hause waren.

Jedenfalls sind wir ganz schön weit mit dem Schiff gefahren. Das Meer hat hohe Wellen geschlagen, denn es war sehr windig. Ich fand es toll! Aber Korad eher nicht so, denn er war ganz grün im Gesicht und irgendwann hing er auch über der Reling und hat die Fische mit Rosinenschokolade gefüttert. Ich hab mein Stück Knusperkaramellschokolade zum Glück noch. Das hebe ich mir auf für einen besonderen Anlass. Oder wenn ich mal so hungrig bin, dass ich nicht die Finger davon lassen kann. Aber ich schweife ab…

Ana ist eine sehr gute Seglerin. Sie hatte das Schiff die ganze Zeit über Kontrolle, sodass man gar keine Angst haben brauchte. Valka und ich haben die Zeit genutzt und er hat mir etwas über den alten Weg erzählt, während wir darauf warteten unser Ziel zu erreichen. Das Meer ist wie der Wald oder die Wüste, hat er mir erzählt. Es ist gewaltig und wenn man sich hier alleine aufhalten kann, dann ist man stark. Denn nichts ist schwieriger als es mit sich selbst auszuhalten. Wenn niemand anders da ist und man ganz auf sich allein gestellt ist. Manchmal zweifele ich daran, ob der alte Weg das Richtige für mich ist. Er handelt so oft davon, dass man allein ist und ich bin eigentlich gar nicht so gern allein. Zumindest im Moment nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich inzwischen hier so viele Freunde gefunden habe? Doch ich will es versuchen! Ich will so sein wie Valka – auch wenn das bedeutet, dass ich mal über meinen Schatten springen muss. Manchmal bin ich ja auch allein unterwegs, aber nie so lang. Und ich glaube, das lässt Valka dann auch nicht gelten. Das ist ganz schön verzwickt.

Aber ich will ja von dem Abenteuer erzählen. Wir sind ganz weit gesegelt. Bis zum Horizont und darüber hinaus. Valka hatte mir nämlich versprochen, dass er mir mal Seeschlangen zeigen will. Und er hat sein Versprechen gehalten. Wir haben tatsächlich eine entdeckt! Sie war gigantisch! Größer als unser Schiff und ihr Maul war so riesig. Sie hätte uns bestimmt mit einem Haps verschlingen können. Erst konnten wir die Seeschlange in Ruhe beobachten, aber dann wurde sie auf uns aufmerksam und griff unser Boot an. Sie hat uns gerammt und das ganze Boot hat so sehr geschaukelt. Aber zum Glück ist keiner ins Wasser gefallen. Vielleicht hätten wir Korad wirklich an den Mast binden sollen. Der kann doch nicht schwimmen.

Valka, Templar und ich haben dann unsere Bögen gespannt und auf die Seeschlange geschossen. Wir mussten den Hals treffen, dicht unter dem Kopf. Die Seeschlange war zäh, wir haben ihr viele kleine Wunden zugefügt, aber keine davon war tödlich. Und dann wurden auch noch Haie vom Blut der Seeschlange angelockt! Plötzlich wimmelte es im Wasser nur vor lauter Finnen und immer wieder stieß ein flacher Kopf mit unzähligen, scharfen Zähnen durch die Wasseroberfläche um die Seeschlange anzugreifen. Ana hatte dann noch eine Schlaufe geknüpft und wollte die Seeschlange damit fangen. Das war so verrückt! Fast hätte dieses Seeungeheuer sie ins Wasser gezogen, aber Templar hielt sie fest und Valka konnte der Schlange noch rechtzeitig seinen Speer von unten durch den Kiefer in ihren Schädel stoßen. So ein Glück. Sonst wären Ana und wohlmöglich wir alle nun Fischfutter.

Ja, es war gefährlich aber auch sehr, sehr aufregend. Ich hoffe, dass wir bald wieder so ein Abenteuer unternehmen aber erst muss Valka sein Boot reparieren lassen. Das ist ein bisschen beschädigt worden beim Kampf mit der Seeschlange. Bestimmt muss eine Planke ausgetauscht werden. Ich kenne das aus meiner Heimat. Und vielleicht stechen wir dann im Frühjahr schon wieder in See. Ich kann es kaum erwarten!

Aber jetzt genieße ich erstmal den Winter. Endlich hat es zu schneien begonnen und alles ist ganz puderweiß. Das ist so schön! Alles was Krach macht ist jetzt nicht mehr laut. Der Schnee verschluckt die Geräusche. Ich liebe den Schnee! Ich will auf jeden Fall eine Schneeballschlacht machen und einen Schneemann bauen. Und wenn die Teiche zugefroren sind, dann will ich darauf herum schlittern und fangen spielen. Das wird toll! Wenn Schnee liegt fühle ich mich immer wie ein Kind.

In Britain lebe ich mich immer besser ein. Mein Haus ist nun auch schon ganz schön wohnlich geworden. Irgendwie verrückt oder? Ich bin 14 Jahre alt und habe schon ein eigenes Haus! Wenn ich das in meiner Heimat erzähle, halten die mich alle für wirr im Kopf. Welches Mädchen hat denn schon mit 14 Jahren ein eigenes Haus? Aber ich hab ganz schwer und viel dafür gearbeitet. Ich war auf der Jagd, habe Federn gesammelt und ganz viele Arbeiten übernommen auf die sonst keiner Lust hat. Und jetzt… jetzt habe ich ein Haus. Hier werde ich den Winter bestimmt gut verbringen können.

Ich habe auch schon Abris eingeladen. Der soll Klara mitbringen und dann können die sich mal mein Haus anschauen. Abris ist zwar schon älter, aber ich versteh‘ mich trotzdem gut mit ihm. Den Ahnen sei Dank, geht es ihm wieder besser. Er ist ja vergiftet worden und hätten wir nicht so schnell Hilfe geholt und alles, dann hätte das ganz übel enden können. Aber es ist alles gut gegangen. Er hat sich erholt und kann schon wieder weise Ratschläge erteilen.


In die untere Ecke der Seite wurde noch hingekritzelt:
- Rohes Fleisch hilft auch bei Ohrfeigen
- Beim Knutschen wird nicht das Gehirn rausgesaugt
Dann geht es auf der nächsten Seite weiter…

Mein bester Freund ist übrigens derzeit Korad. Ab und zu schaut er vorbei, wenn er gerade auf Patru… Pat… Patulli… auf Wachgang ist. Nett von ihm, oder? Wobei er mich letztens geärgert hat. Er meinte, ich sei verhaftet, weil ich so einen leckeren Apfelsaft gemacht hab. Er behauptet, ich hätte die Äpfel aus der herzöglichen Schlemmerkammer geklaut. So ein Unsinn. Wie soll ich denn da reinkommen? Die Äpfel hatte ich noch im Herbst auf der Wiese bei Khaz’Dur gepflückt. Die hingen da einfach frei am Baum. Da darf man sich dann doch mal 1, 2 oder 10 pflücken, oder? Inzwischen hat er aber wohl wieder vergessen, dass ich verhaftet bin. Immerhin kann ich noch immer frei herumlaufen. Außerdem muss der mich erstmal kriegen. Ich bin flink.

Mit Korad kann ich über alles sprechen. Ernste Themen aber auch Lustiges. Manchmal beklagt er sich bei mir darüber, dass Frauen kompliziert sind. Kann ich ja auch nichts für. Ich versuch ihm dann immer Ratschläge zu geben, aber das will er auch wieder nicht so richtig hören. Wie soll ich ihm da helfen? Außerdem ist der schon groß genug selbst damit klar zu kommen. Der wird nämlich bald schon 16. Hat er mir letztens gesagt. Am 3. Rado. Ich muss mal schauen, ob ich ein Geschenk finde. Aber es darf nicht zu albern sein.

Ich darf auch nicht vergessen mir noch Handschuhe zu besorgen. Eigentlich dachte ich, ich wäre für den Winter bestens ausgestattet. Aber Handschuhe… an die hab ich nicht gedacht. So ein Ärger! Da werde ich wohl nochmal meinen großen Freund Covan aufsuchen müssen. Der freut sich immer mich zu sehen.

Stina
im Wyzzin 1321
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 07.12.2016, 09:50
#3
Stina Vandrak
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Felder und Wege waren von einer dicken, weißen Schicht Schnee bedeckt, der im Licht des Mondes silbern glitzerte. Der Schneefall pausierte. Die Wolken hatten sich verzogen und gaben den Blick preis auf eine sternenklare Nacht. Es war frostig kalt. In die Stadt und die Wälder war Ruhe eingekehrt. Zu dieser späten Stunde schliefen sowohl Mensch als auch Tier. Es hätte eine friedliche, nächtliche Stunde sein können, in der die Zeit stehengeblieben zu sein schien und alles zu Eis erstarrt war. Für Viele war es das vielleicht auch – nicht aber für ein junges Mädchen.

Erst hatte sie ihre Schlafstatt zerwühlt, nun hatte sich ihre Bettdecke eng um ihren Leib gelegt, sodass es sie nahezu einschnürte. Nur ihre Nasenspitze und ihr roter Haarschopf lugten aus der Decke heraus. Das Mädchen schwitzte. Sie schlief, doch ihre Augenlider flatterten immer wieder unruhig. Ein leises Wimmern drang ihr von den Lippen, doch sie wachte nicht auf. Quälte sich in unheilvollen Träumen.


Es waren die Tage gekommen, die ihr nicht geheuer waren. Während in ihrer Heimat die tanzenden Lichter am Firmament die Schrecken der Nacht zu verjagen wussten, hatte sie hier das Unheil mit aller Macht getroffen. Sie hatte sich nicht mehr aus dem Haus gewagt. Der eine Ausflug in die Wälder hatte ihr gereicht. Die Bäume – sie waren nicht mehr stumme Wächter gewesen, nein, sie hatten sich gewandelt. Ihre Äste und Zweige hatten sich in reißende Klauen verwandelt, die versuchten nach ihr zu greifen und sie festzuhalten, wenn sie zu nah an ihnen vorbei ging. Sie hatten versucht sie zu packen, wollten sie tief in die Abgründe ihres Wurzelwerks ziehen, auf dass sie dort lebendig begraben und niemand ihre verzweifelten Schreie hören würde. Geister tanzten ihren schaurigen Reigen, kicherten irr, spielten ihren Sinnen Streiche. Sie sah Dinge, die nicht hierher gehörten. Nicht in diese Welt. Der eiskalte Hauch des Todes lag über jenen Tagen und ließ sie frösteln. Legte sich wie kaltes, lebloses Metall um ihr Herz und vertrieb jede Wärme aus ihrem Körper. Die Wolken hatten so tief am Himmel gehangen, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste nur die Hand ausstrecken um sie berühren zu können. Sie verbargen die Sterne vor ihr. Versperrten ihr den Weg zu ihren Ahnen. Verhinderten, dass sie Kontakt zu ihren Vorfahren aufnehmen konnte, bei denen sie sonst Trost und Zuspruch fand. Schwer und drohend lasteten die Wolken über ihrem Kopf, drückten sie nieder mit ihrer bloßen Existenz. Und niemand da, bei dem sie Zuflucht fand. Sie war mutterseelenallein.

Leise jaulte sie auf, warf sich unruhig auf die andere Seite. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, Tränen hatten sich in ihren Augenwinkeln gebildet. Die Traumwelt hielt sie tief in sich gefangen. Es gab kein Entkommen. Das Mädchen durchlebte die Schrecken der vergangenen Tage noch einmal in Traum. In schillernden Farben, grotesk ausgeschmückt und grausig. Erlösung war noch weit. Das Morgengrauen fern.

Totenstille lag über den Ruinen die sich durchwanderte. Was war das für ein Ort? Was war hier passiert, dass das einstige Dorf und seine Bewohner ausgelöscht worden waren. Der Wind pfiff unheilvoll um die brüchigen Mauern. Sie hörte ein Wispern, ein Rascheln. Etwas landete vor ihren Füßen. Es zerplatze, besprenkelte ihre Stiefel. Zäh zerfloss die Masse. Es sah aus wie ein – Gehirn!

Den Bogen gespannt zielte sie am Pfeilschaft entlang auf das Wesen, welches sich ihr schlurfend und stöhnend näherte. Sein Bauch war aufgeschlitzt, Gedärm hing heraus. Das Wesen zog mit seinen klauenartigen Händen daran, wollte es ihr entgegen schleudern. Wie konnte so etwas Wirklichkeit sein? Panik kroch in ihr hoch. Und ein Wort dröhnte in ihren Ohren. Immer lauter und lauter. Untot. Untot! UNTOT! Sie konnte das Zittern ihrer Hände kaum unterdrücken. Sie presste die Lippen aufeinander, kniff die Augen zu. Der Pfeil verließ die Sehne und die silberne Spitze bohrte sich in den Hals des Untoten. Ein Treffer. Mehr Glück als Verstand. Aber nicht ausreichend um solche Wesen aufzuhalten.


Wieder wimmert das Mädchen. Unruhig dreht sie sich von einer Seite auf die andere. Im Schlaf hat sie ihre Hände aus dem Deckengefängnis befreien können, doch ihre Füße haben sich tief in das Knäul aus Decke verfangen. Unruhig schlägt sie um sich.

Sie steht allein auf einem leeren Platz. Ein leises Scharren in der Stille. Sie sieht sich um. Doch da war nichts. Plötzlich wird sie am Knöchel gepackt. Schraubstockartig legen sich lange, knöchrige Finger um ihr Fußgelenk. Eine Hand durchbricht das Erdreich, hält sie fest, zerrt an ihr. Sie schreit! Will davon laufen, doch die untote Hand hält sie eisern fest. Sie steigert ihre Bemühungen. Der Daumen der untoten Hand bricht, sie kommt frei. Rennt los. Kopflos sucht sie Schutz. Läuft in die Ruine wo sie keuchend stehenbleibt und mit schreckensgeweiteten Augen hinaus auf das Feld sieht, wo sich weitere Untote aus dem Erdreich heraus graben.

Von rechts dringt ein Stöhnen an ihr Ohr. Ein Untoter, zwei Köpfe größer als sie, hinkt auf sie zu. Streckt seine Klauen in ihre Richtung. Sie will zurück weichen, doch sie prallt mit dem Rücken gegen einen Widerstand. Will zur Seite ausweichen, doch wieder versperrt ihr etwas den Weg. Sie ist gefangen. Der Untote kommt immer näher. Der Hieb, den er ihr verpasst, schmerzt, presst ihr die Luft aus den Lungen. Sie kann nicht mal mehr schreien. Das Wesen inzwischen zu nah, als dass sie ihren Bogen spannen könnte. Krallen kratzen quer über ihre Brust, doch der lederne Harnisch schützt sie. Noch einmal versucht sie die Hindernisse zu überwinden, doch es gibt kein Durchkommen. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie der Untote ein letztes Mal den Arm mit den fiesen Klauen hebt. Der Schlag zielt auf ihren Kopf. Sie weiß, trifft er sie, war’s das. Dann wird Schwärze sie umfangen. Und der Arm saust nieder…


Ein markerschütternder Schrei. Ihr Oberkörper bäumt sich auf, schnellt in die Höhe. Die Augen panisch aufgerissen atmet sie schwer, während ihr Herz wie verrückt in ihrer Brust bummert. Ihr Rücken von kaltem Schweiß bedeckt sitzt sie da, während ihr Geist langsam in die Wachwelt zurückkehrt. Sie tastet ihren Oberkörper ab. Den Bauch, die Brust, ihren Kopf. Das Haar klebt ihr in verschwitzten Strähnen im Gesicht. Ihre Lippen beben. „Nur ein Traum, Stina. Nur ein Traum…“
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 08.12.2016, 10:56
#4
Stina Vandrak
Reisender
 
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Liebes Tagebuch,

jetzt ist schon wieder so viel passiert in letzter Zeit, dass ich gar nicht mehr nachkomme alles niederzuschreiben. Würde ich alles aufschreiben, was ich so erlebe, wäre das Buch vermutlich schon voll. Dann bräuchte ich ein Zweites. Dabei bin ich gerade mal 10 Mondumläufe hier im Herzogtum. So ereignisreich war mein Leben zu Hause in den Fjordlanden nicht. Da waren die Tagesabläufe geregelter und man bekam immer wieder die gleichen Leute zu Gesicht. Hier in Britannia ist es anders. Ganz anders.

Als Erstes will ich schreiben, dass mein bester Freund Korad vor ein paar Tagen Geburtstag hatte. 16 Jahre ist er nun alt. Schon fast ein erwachsener Mann. Aber eben nur fast. Ich hatte ihm versprochen, dass ich es für mich behalte, dass er Geburtstag hat. Aber irgendwie hab ich mich dann doch in der Bärenhöhle verplappert. Nun, was heißt verplappert – er saß da, ich kam rein und dann hab ich ihm überschwänglich gratuliert. Alle haben es mitbekommen. Das war so eigentlich nicht meine Absicht. Aber ist nun mal passiert. Ich glaube auch nicht, dass er es mir wirklich übel nimmt. Es war doch eine ganz schöne Feier. Peinlich wurde es erst, als Ana ihm Geburtstagslieder gesungen hat. Aber der Kuchen hat trotzdem gut geschmeckt. Und ich glaube, über mein Geschenk hat er sich auch gefreut.

Dann kam der Tag, wo wir auf unser großes Abenteuer gegangen sind. Ich war so aufgeregt, dass ich die ganze Nacht davor überhaupt nicht schlafen konnte. Ich war dann auch ganz pünktlich am Hauptquartier, wo wir uns alle treffen wollten. Zusammen waren wir eine richtig gute Truppe. Da waren Aislin und Varkon, Templar und Orbis und natürlich Valka. Auch Korads Vater war da. Erst hat man ihn wochenlang nicht gesehen und dann taucht er plötzlich auf. Die Leute sagen ja, dass er schon ein bisschen wirr im Kopf ist. Vielleicht verläuft er sich ja ständig irgendwo und irrt dann durch die Wälder und andere Städte und weiß nicht mehr wie er nach Hause kommt? Ich sollte mal mit Korad darüber reden. Vielleicht ist es besser, wenn man seinen Vater nicht mehr alleine rumlaufen lässt? Ich meine, der hat sogar vergessen sich zu rüsten und erst kurz vor unserem Zielort hat er sich dann umgezogen. Und das vor aller Leute! Plötzlich stand er in Unterhosen da! Ganz schön peinlich…

Aber sonst ist dieser Darok irgendwie ein guter Kerl. Am Anfang hatte ich ein bisschen Schiss vor ihm. Der ist ganz schön groß… und breit… und trägt so viele Waffen mit sich rum, als würde er immer und überall einen Hinterhalt erwarten. Aber inzwischen hab ich mich an ihn gewöhnt. Und… ich weiß nicht genau, ich glaub, der hat irgendwie einen Narren an mir gefressen. Der freut sich immer wie ein kleines Kind wenn er mich sieht. Nennt mich „hübsch“ und „meine Stina“. Der tut ja fast so, als wär ich seine Tochter! Aber das bin ich gar nicht. Ich bin Vladis‘ Tochter und auf meinen Papa sehr, sehr stolz.

Jedenfalls sind wir dann runter in den Süden gezogen und wurden beim Mondtor vor Trinsic erstmal aufgehalten. Plötzlich waren wir umzingelt von so komisch gewandeten Gestalten. Dann war da noch ein Wortführer. Der wollte tatsächlich, dass wir Wegegeld zahlen. Nach längerem Hin und Her hat er dann seine Münzen bekommen. Einen Kampf wollten wir nicht zu riskieren. Wir waren zwar von der Anzahl ungefähr gleich viele, aber Aislin und ich waren eben dabei. Hoffentlich war ich nicht nur ein Klotz am Bein.

Nach einem längeren Fußmarsch kamen wir dann in so ein Dorf. ‚Das Dorf der Fäulnis‘ hat Darok es genannt. Und so hat es dort auch gerochen. Ach, was sag ich. Es hat gestunken! Und das bestialisch. In diesem Dorf waren ganz schön viele Untote. Das war das erste Mal, dass ich solche Untoten von so nah gesehen habe. Die sind ganz schön hässlich. Stöhnen die ganze Zeit rum und schlurfen und hinken auf einen zu. Aber ich hab ja schon geschrieben, dass wir eine gute Truppe waren und so kamen wir recht zügig voran.

Valka wollte dann, dass wir Ausschau halten sollten nach Schriften und alten Büchern – irgendwas, was uns ein wenig Aufschluss über diesen Ort geben sollte. Das war gar nicht so leicht, denn um in den Ruinen alles untersuchen zu können, mussten wir immer erst wieder die Untoten erlegen, die ohne Zahl immer wieder herbei strömten. Ich glaube ja, dass man einen Untoten gar nicht wirklich töten kann. Ich meine, wie soll das gehen? Das Wesen ist ja schon tot! Man kann es höchstens betäuben, für einen Moment ausschalten – aber dann sollte man auch schon das Weite suchen. Verharrt man zu lange an einer Stelle kann man miterleben, wie sie sich wieder aufrappeln und einen erneut angreifen. Richtig gruselig.

Und ich glaube, das wurde mir auch zum Verhängnis. Wir hatten gerade einen Platz von Untoten gesäubert und sahen uns noch weiter um, als ich so ein komisches Geräusch hörte. So ein Rascheln oder Graben. Ich rief den anderen noch zu, ob sie das auch hörten, aber dann war es schon zu spät. Die Untoten kamen aus der Erde. Und einer hatte mich am Knöchel gepackt. Zum Glück konnte ich mich gerade noch so losreißen und habe schnell Schutz in der Ruine gesucht. Aber hier hab ich auch keinen Schutz gefunden. Denn da lauerte schon ein weiterer Untoter, der mich ganz schön angegangen ist. Plötzlich hatte ich ganz schön Angst. Zwischen dem ganzen Gerümpel was da rumlag, war ich eingekeilt und konnte nicht mehr weg und dieser Untote kam immer näher! Der war viel größer als ich und stank und bließ mir seinen fauligen Atem ins Gesicht. Es war schrecklich! Ich dachte schon, der würde mich jetzt fressen, als er plötzlich in sich zusammen sackte. Ein Pfeil ragte ihm aus dem Schädel. Ein Pfeil von Templar. Der kam gerade noch rechtzeitig. Danach stand ich ein bisschen neben mir. Valka und Darok schienen irgendwie besorgt, dabei hab ich denen gesagt, dass es mir gut ginge. Darok ist dann nicht mehr von meiner Seite gewichen. Das ärgert mich jetzt ein wenig. Ich brauch doch keinen Aufpasser! Oder doch?

Wenigstens haben wir dann noch ein altes Buch finden können und auch zwei Steinbücher konnte Valka abpausen. Ich bin mal gespannt, welches sich Geheimnis dahinter verbirgt! Aber um dieses Rätsel zu lösen, war ich an diesem Abend dann wirklich schon zu müde und geschafft. Und dann war die Nacht nicht wirklich erholsam. Ich hab ganz schön schlecht geträumt, bin schreiend aufgewacht. Wie ein kleines Kind hatte ich Albträume von den Untoten. Wie peinlich. Das hab ich nur Korad erzählt. Bei ihm weiß ich, dass er sich nicht drüber lustig macht. Dafür sind wir zu gute Freunde. Und dass er dann in der nächsten Nacht bei mir übernachtet hat, damit er mich wecken konnte, wenn ich schlecht träume, fand ich auch schön. Freunde machen das so!

Stina
im Rado 1322
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 17.01.2017, 10:11
#5
Stina Vandrak
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Liebes Tagebuch,

ich habe es ja schon die ganze Zeit gewusst. Die geborene Schreiberin bin ich nicht. Aber dass jetzt im Nachhinein auch noch die Schreibfaulheit dazu gekommen ist ärgert mich schon. Der Winter ist schon längst vergangen und auch der Frühling. Jetzt haben wir Sommer und es ist schon wieder so unerträglich heiß, dass ich mich am Liebsten den ganzen Tag ins kalte Wasser legen würde. Aber der See in Cove ist tabu – du weißt ja warum.

Jedenfalls hab ich ganz schön lange schon nichts mehr geschrieben und jetzt weiß ich auch gar nicht, ob ich das noch alles so geordnet wiedergeben kann. Vermutlich nicht. Aber ist ja auch egal. Wenn ich mal alt, tatterig und grau bin und voller Falten, dann ist es für mich bestimmt auch nicht mehr wichtig ob das eine Ereignis im Libani oder das andere im Cun oder wann auch immer war. Was ich aber mit absoluter Sicherheit sagen kann ist, dass ich am 17. Nugor Geburtstag hatte. Und jetzt bin ich 15 Jahre alt. Ich hab sogar schöne Geschenke bekommen. Von Klara eine Schalenwaage, damit ich Kuchen backen kann, von Karn eine Fischschuppe, von Darok neue Stiefel und einen Gürtel und von Korad ein neues Jagdmesser. Das ist das beste Geschenk, denn mein altes Jagdmesser war schon ganz stumpf und abgegriffen und das neue schimmert so schön in einem rotbraunen Farbton. Es ist bestimmt ganz kostbar.

Mit Valka und ein paar anderen Leuten war ich auch wieder auf einer Expi… Expedi… Expidi… einem Abenteuer. Wir sind wieder in den Süden gezogen und haben das umliegende Land einer Pyramide erkundet. Auch hier sind wir wieder fündig geworden, aber seither ist es ganz schön still um die Legion geworden. Ich habe Valka schon ewig nicht mehr gesehen. Vermutlich folgt er dem alten Weg und ist irgendwo allein, tief in den Wäldern, in der Wüste oder wo auch immer. Ich vermisse ihn schon und auch die Abenteuer. Aber er taucht bestimmt einfach irgendwann wieder auf. So hoffe ich. Das Abenteuer muss doch noch weiter gehen! Der letzte Teilabschnitt fehlt noch, auch wenn ich glaube, dass ich dann nicht mitgehen werde. So wie ich das verstanden habe, müssen wir dann in die Pyramide hinein und irgendwie, ja… ich glaube, das wird ganz schön gruselig. Ich weiß nicht, ob ich mich das traue.

In letzter Zeit hab ich mich auch manchmal mit Klara getroffen. Sie ist mir eine ganz liebe Freundin geworden. Fast so wie eine große Schwester. Und mit ihr kann ich über ganz viele Sachen reden. Auch über die Sachen, mit denen man nicht so gut mit Jungs reden kann. Deshalb hab ich ihr auch erzählt, dass ich… ach nein, das schreib ich hier nicht rein. Das ist mir immer noch peinlich. Und ekelig ist es auch. Und das soll ich jetzt Monat durchmachen? Ekelhaft. – Aber sie hat mir Tipps gegeben, wie ich damit umgehen kann. Überhaupt hilft sie mir, denn irgendwie ist alles komisch. Mein ganzer Körper beginnt sich zu verändern, wird fraulicher und im Kopf, da bin ich noch so… klein. Vielleicht werde ich gar nicht richtig erwachsen? Nur Äußerlich und bleibe im Inneren immer ein junges Mädchen? Aber das wär‘ ziemlich doof. Jedenfalls unterstützt sie mich und teilt ihre Erfahrungen mit mir. Dann komm ich mir nicht ganz so dumm vor.

Klara und ich hatten auch die fabelhafte Idee einen Mädchenabend zu machen. Wir waren zwar nur zu viert, aber es war dennoch sehr lustig. Zumindest bis Darok und dieser Waldelf aufgetaucht sind. Und das alles nur wegen dem Vorfall mit der Waldelfe. Das war richtiger Mist. Korad hatte einfach die Beherrschung verloren. Aber wer soll es ihm auch verübeln? Wegen so einem dummen Zwischenfall ist Flint nun tot, sein bester Freund. Der Hund, der ihn so lange begleitet hat und den er wieder aufgepäppelt hat, nachdem er ihn völlig verlaust in der Nordmark aufgelesen hatte. Und diese Waldelfe… statt uns zu helfen, nein, statt Flint zu helfen und ihm die Schmerzen zu nehmen, hat sie nur auf Korad rumgehackt und ihn beschimpft. Ich war so geschockt. Und dann hat Korad nun mal so reagiert, wie er eben reagiert hat. Es tut ihm ja jetzt auch sehr leid. Das hat er mir gesagt. Und ich denke, er wird es auch wieder gut machen. Irgendwie. Bestimmt redet er mal mit diesem anderen Waldelf. Der war zwar auch irgendwie gruselig, aber hat sich zumindest unsere Geschichte angehört. Ich hoffe, dass wieder alles gut wird.

Seit diesem Vorfall hab ich Korad auch kaum mehr gesehen. Einmal war ich in der Nordmark und habe ihn besucht. Da war er ganz normal. Er hat ein Haus umgebaut, das dient jetzt als Stall. Danach waren wir noch was essen, aber dann… dann haben sich unsere Wege auch schon wieder getrennt. Ich weiß nicht, ob ich einfach wieder zur Nordmark reiten soll. Ich will ja auch nicht aufdringlich wirken. Aber ich mache mir schon Sorgen. Früher kam er fast jeden Tag vorbei. Wenn auch nur kurz, weil er eigentlich seinen Freund, den Ritter Knilchgut, besuchen wollte. Aber jetzt… jetzt habe ich ihn schon so lange nicht mehr gesehen. Ob er jetzt eine Freundin hat mit der er die Zeit lieber verbringt? Vielleicht mag er mich ja nicht mehr…

Aber wenn er mich wirklich nicht mehr mag, dann soll er mir das sagen! Und noch wichtiger: auch den ganzen Leuten aus der Bärenhöhle und unseren Freunden. Was ich mir in letzter Zeit immer anhören darf. Das ist echt zum Mäusemelken. Irgendwie sind sich alle einig, dass Korad und ich mal heiraten! Das ist doch… verrückt. Wir sind (oder waren) die besten Freunde – da kann man doch nicht einfach heiraten! Auch wenn die Leute anderer Meinung sind. Darok sieht mich schon als seine Schwiegertochter. Das ist ein bisschen gruselig. Und jetzt beginnt er auch noch von Enkeln zu reden! Ich glaube, dieser Kerl ist langsam wirklich zu alt und einfach total wirr im Kopf. Ich bin 15 – wie soll denn das gehen?

Und dieses Kussthema geht mir auch auf die Nerven. Alle knutschen rum. Klara hat mich geherzt und auf die Stirn geküsst, Covan hat mich auf den Kopf geküsst und jetzt auch noch Darok. Was soll das denn? Ich weiß wirklich nicht, was alle so toll daran finden. Na gut… einerseits ist es schon irgendwie ein schönes Gefühl. So vertraut und… ja, so halt. Aber wenn ich jetzt nicht mal mehr die Straße lang gehen kann, ohne das mich jemand knutscht… der nächste der das macht, dem hau ich auf die Nase. Worauf du dich verlassen kannst!


Stina
im Ador 1322
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 27.01.2017, 09:30
#6
Stina Vandrak
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Im Schneidersitz sitzt sie auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt. Ihr Tagebuch liegt offen auf ihrem Schoß. Ein Stift zwischen den Seiten verhindert, dass die aufgeschlagene Seite umblättert. Die oberen Glieder ihres Zeige- und Mittelfingers sowie des Daumens ihrer rechten Hand sind vom Kohlestift schwarz verfärbt und in der linken oberen Ecke der leeren Seite wurden kleine schwarzgraue Herzchen gezeichnet.

Ihr Blick sieht in den Raum hinein ohne einen gewissen Punkt zu fixieren. Stattdessen ziert ein verträumtes Lächeln ihre Lippen. Die sommersprossenbesetzten Wangen haben einen gesunden, roten Farbton. Ein Schimmer liegt in ihren hellgrünen Augen während sie ihren Gedanken nachhängt.

„So fühlt es sich also an, wenn man küsst…“

Das Mädchen ist 15 Jahre alt. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Steckt mitten in der Pubertät und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten. Wo sie sich gestern noch wie ein Kind fühlte und auf Bäume klettern wollte, fühlt sie sich am nächsten Tag wie eine erwachsene Frau, der man aus Höflichkeit die Tür aufhalten sollte. Dinge, um die sie sich nie geschert hat. Die Hosen, die im Winter noch so gut gepasst hatten, kriegt sie nur noch mit Mühe geschlossen. Der Körper schmerzt. Er verändert sich. Bekommt Kurven. Der schmale Strich in der Landschaft wird Teil ihrer Vergangenheit. Hüfte und Taille prägen sich aus. Der Busen wächst.

Doch nicht nur der Körper verändert sich. Auch in ihrem Kopf spinnt es herum. Und so fühlt sie sich zerrissen, weiß nicht wie sie klar denken soll. Küssen, das tun doch nur Erwachsene – und sie fand es immer ekelig. Sie erinnert sich an die Ulkerei, dass man sich beim Küssen das Gehirn gegenseitig raussaugen könnte und macht die eigene Erfahrung, dass es nicht so ist. Im Gegenteil. Eigentlich fühlt es sich ganz gut an.

Ein verhaltenes, deutlich mädchenhaftes, helles Kichern dringt von ihren Lippen und sie senkt den Blick auf ihr Tagebuch. So vieles vertraut man diesem Buch an. Aber auch den ersten Kuss? Was würde geschehen, wenn jemand dieses Buch finden und darin lesen würde. Ihren Geheimnissen auf den Grund ginge? Es war eine Gefahr alles niederzuschreiben. Erst recht jetzt, da sie nicht mehr alleine in ihrem Haus wohnte.


Liebes Tagebuch,

du wirst nicht glauben, was passiert ist. Baki ist da! Mein Bruder Baki! Er ist so… groß geworden, älter und hat eine schreckliche Frisur. Doch ich beginne am Anfang.

Ich saß also mit Korad in der Bärenhöhle. Wir quatschten über dies und das. Niemand sonst war da, als plötzlich die Tür aufging und ein Nordländer reinstapfte. Ich nahm erst gar keine Notiz von ihm. Aber plötzlich sagte der Fremde meinen Namen. Stina! Und ich sah verwundert zu ihm rüber, denn woher sollte er mich schon kennen?

Und dann sah ich da Baki stehen. Meinen Bruder und Dauergast in meinen Albträumen. Wenn es wenigstens Jaric oder Terk gewesen wären. Die hatten mich zwar auch oft geärgert, aber Baki war immer der Schlimmste von allen gewesen. Ich wusste gar nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich vor Begeisterung losstürmen, ihn um den Hals fallen, mich freuen dass er da ist und somit ein Teil meiner Familie nun im Herzogtum angekommen war? Nein, das konnte ich nicht. Ich entschied mich dafür ruhig zu bleiben und erst mal abzuwarten, wie er sich verhalten würde.

Kurz nach seiner Ankunft kam dann auch mehr Leben in die Bude. Ana kam herein und auch Abris und Klara waren plötzlich da. Alles war laut und irgendwie hektisch. Alle redeten durcheinander. Ich kam kaum noch mit. Baki hingegen amüsierte sich prächtig. Als Ana mich zu sich an die Theke rief, bekam ich gerade noch mit, wie er anfing Geschichten aus unserer gemeinsamen Kindheit zu erzählen. Bei den Ahnen… wie peinlich! Und das auch noch vor Korad. Ich wäre am Liebsten im Erdboden versunken. Dann erzählte er noch von seinen Reisen, wo er überall gewesen war. In den eineinhalb Jahren, die ich ihn nicht mehr gesehen habe, ist er ganz schön viel rumgekommen. Aber am Besten hat es ihm wohl in diesem Busch gefallen. Denn da erzählt er ganz oft von und am Häufigsten von der Frau, die er da kennengelernt hat. Aber wie er die Frau beschreibt… nein, das kann ich hier wirklich nicht aufschreiben. Ich bin ja neugierig, ob sie seine Freundin war. Aber das kann ich ihn nun wirklich nicht fragen! Nachher denkt er noch, ich würde mich für so etwas interessieren!

Jedenfalls hat er wohl beschlossen erstmal ein paar Tage oder Wochen hier zu bleiben. Ich habe das zähneknirschend zur Kenntnis genommen. Hoffentlich plaudert er keine weiteren peinlichen Sachen aus. Das geht die Leute nun echt nichts an. Der soll sich mal benehmen. Aber er hat mir ja versprochen, dass er sich geändert hat. Er ist älter geworden, 20 schon und auch weiser wie er sagte. Und außerdem ist er mein Bruder und gehört damit zu meiner Familie. Irgendwie freue ich mich doch, dass er hier ist. Nun bin ich nicht mehr so allein. Er war wohl auch sichtlich überrascht mich hier anzutreffen. War er doch immer davon ausgegangen, dass ich, nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, wieder nach Hause gegangen bin. Dass ich auf eigene Faust weiter losgezogen bin, davon ahnen meine Brüder ja nichts. Und schon gar nicht mein Vater!

Ich hab ihn nun in mein Haus aufgenommen. Er war sichtlich beeindruckt. Kann er auch sein! Immerhin habe ich mir das ganz alleine erarbeitet und verdient. Das soll er erstmal nachmachen! Aber muss er ja nicht. Mein Haus ist groß genug. Wir werden es so herrichten, dass jeder sein eigenes Zimmer bekommt und dann können wir hier gemeinsam wohnen. Ich glaube, das wird ganz spaßig.

Und wenn nicht, dann kenne ich noch einen Ort wo ich Zuflucht suchen kann und mich keiner findet. Mit einer Ausnahme.

Stina
im Estif 1322
Stina Vandrak ist offline  
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Alt 20.06.2017, 18:55
#7
Stina Vandrak
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Beiträge: 234
Eigentlich liebte sie die See. An der Reling zu stehen, die Nase in den Wind zu halten, den Wellen zuzusehen, wie sie sich am Bug brachen – das gehörte zu ihrer Welt. Damit war sie aufgewachsen. Früher, als sie noch ein Kind war, hatte sie oft die großen Schiffe beobachtet; war sogar auf ihnen mitgereist. Jetzt weckte die Überfahrt die alten Erinnerungen und damit den Schmerz.

Sie lag unter Deck in ihrer Koje. Zusammengerollt wie eine Katze, die Decke über den Kopf gezogen, schloss sie die Außenwelt von sich aus und harrte doch still darauf, wann das Schiff endlich in den Hafen von Britain einlaufen würde. Die letzten Tage waren schrecklich anstrengend gewesen, hatten ihre Gefühlswelt durcheinander gewirbelt und sie brauchte Zeit das Erlebte zu verarbeiten.

Alles hatte begonnen, als Jaric plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte. Ihr Bruder Jaric. Bei den Ahnen, war das lange her, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Es mussten mittlerweile drei Jahre vergangen sein. Doch die Freude über seinen Besuch sollte nicht lange währen. Nach einer innigen Umarmung der Geschwister nahm sie zum ersten Mal seine ernste Miene wahr und schnell wurde ihr klar: der Grund für seinen Besuch war kein erfreulicher.

Ihrem Vater ging es schlecht. Sehr schlecht. Er lag im Sterben. Stina fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Ihr Vater war ein Bär von einem Mann! Hochgewachsen, mit einem breiten Kreuz. Beine so dick wie Baumstämme. Er war überall behaart und hatte eine tiefe, brummende Bassstimme. Und dieser Mann sollte bald seinen Weg zu ihren Ahnen antreten? Die junge Frau hatte keine Zeit sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Jaric trieb sie zur Eile an. Das Schiff würde bald ablegen und so schaffte es Stina gerade noch ein paar Sachen zusammenzupacken und Korad eine Nachricht auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Sie hoffte, dass er sie finden würde. Er musste einfach, sonst würde er sich noch Sorgen machen. Und wenn er den Brief nicht fand, dann vielleicht Silena. Sie könnte ihm dann Bescheid sagen. Ja, das war ein guter Plan. So war sie zweifach abgesichert. Korad würde auf jeden Fall erfahren, dass sie in ihre Heimat reisen musste – doch würde er ihre Eile auch verstehen?

Die Reise war lang und zerrte an ihren Nerven. Die Angst und die Ungewissheit, ob sie noch rechtzeitig ihr Heimatdorf erreichen würden oder nicht, schwebte die ganze Zeit unausgesprochen zwischen ihnen. Nachdem ihr Schiff angelegt hatte, liehen sie sich Pferde und ritten weiter. Dabei wurde es zunehmend kälter und Stina begann es zu frösteln. Doch dies lag nicht nur an den fallenden Temperaturen, auch das anhaltende Schweigen machte ihr zu schaffen.

Stina wollte nicht daran denken, wie es wäre, wenn sie zu spät kommen würden. Drei Jahre waren vergangen in denen sie ihren Vater nicht mehr gesehen hatte. Sie war auch ohne ihn gut zurechtgekommen. Vielleicht sogar besser, als sie es sich je erträumt hätte. Sie hatte sich ein neues Leben im Herzogtum Britannia aufgebaut, hatte einen festen Freund, neue Freundschaften geschlossen und war ein vollwertiges Mitglied der Legion. Und doch… das Wissen, dass ihr Vater bald sterben würde, dass es keine Heilung für ihn gab, quälte sie ungeheuerlich. Die Gewissheit, dass sie jederzeit, wenn ihr alles zu viel würde, zu ihm zurückkehren könnte, war dann nicht mehr gegeben. Dann wäre sie auf sich allein gestellt. Sie, eine junge Frau im Alter von 16 Jahren.

-

Und dann kam der Tag an dem Jaric und sie ihr Heimatdorf erreichten. Eigentlich sah alles aus wie immer. Als wäre es gestern gewesen, dass sie zusammen mit ihren Brüdern das Dorf verlassen hatte. Doch es herrschte eine allumfassende, bedrückende Stimmung. Die kleinen Lagerfeuer hier und dort waren verwaist, man sah keine Leute zwischen den Hütten hin und her eilen. Selbst die Hunde waren still. Stinas Magen rebellierte. Sie waren zu spät.

Langsam und leise setzen sie ihren Weg durch das Dorf fort. Stina fühlte sich wie ein Eindringling. Sie steuerten auf das große Langhaus im Ortskern zu und hier trafen sie dann auch auf die Mehrheit der Einwohner. Die vielen Blicke, die auf der jungen Frau ruhten, waren ihr unangenehm. Da war keine Spur von Wiedersehensfreude. Sie fühlte sich gar kritisch beäugt. Sie war hier geboren und hatte hier eine unbeschwerte Kindheit verbracht bis sie im Alter von 13 Jahren mit ihren Brüdern ausgezogen war. Nun fühlte sie sich hier fremd. Doch sie konnte es den Leuten nicht verübeln. Wer in diesem Dorf geboren wurde, starb auch hier. Wer länger als einen Jahreslauf fort war galt zunächst als Fremder, bis er seinen Rang und das Vertrauen wieder gewonnen hatte.

Erst als sie Jarics schwere Hand auf ihrer Schulter spürte, wurde ihr bewusst, dass sie wie angewurzelt in der Tür stehen geblieben war. Ihr Bruder lotste sie weiter, zwischen den Leuten hindurch, bis sie am Ende des Langhauses auf eine kleine Kammer stießen. Jaric öffnete die Tür und gemeinsam betraten sie den Raum.

In der Kammer war es drückend warm und düster. Die Fenster waren mit schweren Ledervorhängen verhangen. Es roch unangenehm. Nach kalten Schweiß und abgebrannten Räucherstäbchen, deren blauer Qualm sich unter der Zimmerdecke sammelte. Eine Frau erhob sich von einem kleinen Schemel der in der Ecke stand. „Gut, dass ihr endlich da seid. Er spricht schon mit seinen Vätern,“ sprach sie leise und verließ das Zimmer. Die Geschwister wechselten einen kurzen Blick, dann nickte Jaric Stina zu. Der Kloß in ihrem Hals wuchs als sie an das Lager aus Fellen heran trat. Der Weg war lang und anstrengend gewesen, doch dies war nichts im Vergleich zu den letzten Schritten. Sie hatte so viel Zeit gehabt sich vorzubereiten. Und jetzt fühlte sie sich nicht bereit. Was sollte sie überhaupt sagen? Wollte ihr Vater sie überhaupt sehen? Sie war damals nicht zurückgekehrt, hatte ihr Versprechen gebrochen. Würde ihr Vater ihr das verzeihen?

Stina erschrak, als sie dem Mann ansichtig wurde, der dort auf den dunklen Fellen lag. Er war nur noch ein Schatten des Mannes, den sie einst Vater genannt hatte. Er war kein Bär mehr. Sein Haar war jetzt weiß und die Haut grau vom fehlenden Sonnenlicht. Seine Muskeln waren dahin geschmolzen, die Haut hing schlaff herunter, als sei die Hülle nun zu groß für seinen Körper. Ganz still lag er da, rührte sich nicht und schien auch nicht zu mehr zu atmen. Vorsichtig kniete sie sich an seine Seite und betrachtete sein Gesicht. Obwohl es durch die Krankheit gezeichnet so verändert aussah, erkannte sie doch noch die Ähnlichkeit. Die Gesichtszüge die sie gemein hatten; die sie von ihm geerbt hatte. Sie hätte ihn als Vater niemals leugnen können. Jeder konnte es sehen. Sie war seine Tochter. Sie war Vladis‘ Tochter. Vladisdottir.

Sie hob den Blick zu Jaric der in der Tür stehen geblieben war. Er hatte eine Hand vor den Mund gelegt und in seinen Augen stand die gleiche Fassungslosigkeit, die Stina am ganzen Leib spürte. Sie wusste nicht, in welchem Zustand ihr Vater gewesen war, als Jaric ausgezogen war um sie zu holen, aber seinem erschütterten Blick nach zu urteilen, hatte er noch Hoffnung gehabt. Hoffnung, die nun erloschen war. Er wandte sich um, verließ das Zimmer und ließ Stina allein mit ihrem Vater zurück.

Die junge Frau beugte sich über ihren Vater, strich mit den Fingerspitzen vorsichtig eine Haarsträhne zur Seite, dann streichelte sie seine Wange. Er fühlte sich kühl an - aber da war noch Leben. Stinas Augen füllten sich mit Tränen. Sie erlaubte es sich nicht oft zu weinen. Sie war ein starkes Mädchen. Doch wenn es um ihre Liebsten ging, dann brachen die Dämme. Mit tränenerstickter Stimme flüsterte sie ihrem Vater zu, wie leid es ihr tat, dass sie ihn im Ungewissen gelassen hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Reise, von ihrem Werdegang. Dass er stolz auf sie sein konnte. Sie erzählte ihm sogar von Korad, dass sie ihn liebte und dass er ihn gewiss mögen würde. Und sie bat um seinen Segen, sollte Korad ihr verzeihen, nachdem sie ihn einfach, ohne große Erklärungen, nur mit einer Nachricht abgespeist, verlassen hatte. Als sie nichts mehr zu berichten wusste, erzählte sie ihm die Geschichte, die er so gern hörte und sie sang leise für ihn. Sie wusste nicht, ob ihr Vater sie noch hören konnte. Sie sah, wie seine Augen unter den geschlossenen Lidern aufgeregt hin und her rollten. Sie ergriff seine Hand, schob ihre schmale Hand in seine große. Erschöpft bettete sie den Kopf auf seine Brust und lauschte dem schwächer werdenden Atem. So verharrte sie die ganze Nacht.

-

Stina stand etwas abseits von den anderen. Drei Tage waren vergangen und sie fühlte sich immer noch fremd. Dies war nicht mehr ihr zu Hause. Ihr Herz wohnte nun woanders und sie fühlte, wie es sie mehr und mehr zu diesem Ort zurückzog. Man hatte sie am nächsten Morgen schlafend auf der Brust ihres Vaters vorgefunden. Er musste in der Nacht heimgegangen sein. Stina hatte es gespürt und doch war sie nicht von seiner Seite gewichen. Sie hatten den Traum, in dem er ihr noch einmal über das rote Haar gestreichelt und leise ihren Namen geflüstert hatte, festhalten wollen. Es war ihr nicht möglich zu sagen, ob es in Wirklichkeit geschehen war. Aber sie hielt diesen Moment in ihrem Herzen fest.

Sie sah dem kleinen Boot nach, welches auf den Wellen schaukelte. Ihr Vater lag darin aufgebahrt, in seine besten Kleider gehüllt, umringt von seinen liebsten Waffen und anderen kleinen Gaben. Dies war seine letzte Fahrt. Das Boot würde ihn über den Horizont tragen bis er die goldenen Tore erreichte, die zu seinen Ahnen führen würden. Dort würde er mit ihnen zusammen zechen und über die Geschicke ihrer Kinder wachen. Ein tröstender Gedanke.

Wenige Stunden später saß Stina wieder im Sattel. Sie hatte sich von Jaric verabschiedet, dem nun ein schweres Erbe bevor stand. Er hatte versucht sie zum Bleiben zu bewegen, doch sie wollte nicht. Sie lud ihn ein, sie im Herzogtum besuchen zu kommen und war sich doch fast sicher, dass er es nicht tun würde. Dieser Abschied war ein Lebewohl.

Der Rückweg zog und zog sich und bereitete ihr Magenschmerzen. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde, wenn sie zurück war. Sie wusste nur, was sie unbedingt wollte. Aber würde ihr Wunsch auch in Erfüllung gehen? Die Ungewissheit lastete schwer auf ihren Schultern, ließ sie nachdenklich werden. Sie knüpfte auf dem Heimweg keine weiteren Kontakte. Und als sie das Schiff bestieg, welches sie zurück nach Britain bringen würde, verschwand sie sofort unter Deck in die kleine Kajüte.
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