Thema: [Rollenspiel] Der Segen der Göttinnen
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Alt 06.10.2022, 16:50
Der Segen der Göttinnen
#1
Stille der Nacht
 
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Ein lautes Knallen rummste durch den nächtlichen, von tausenden von Kerzen erleuchteten Palast. Die erlesenen, aber spärlich eingerichteten Räumen mit ihren hohen Decken gaben den Misston knallend wieder. Und ein Misston war es tatsächlich, denn hier, wo die Götter sich gelegentlich für familiäres oder politisches Beisammensein trafen, waren solche Geräusche doch eher unüblich. Natürlich konnten auch Götter sich lautstark streiten - insbesondere wenn sich einer der Eigenwilligeren unter sie mischte - aber fürs Türenknallen war man dann doch zu gesittet.

Libanu seufzte. Sie war nur hergekommen, um sich ein wenig mit ihren Kindern und Anverwandten zu unterhalten und war am Ende bei ihrer Tochter Cunna hängengeblieben. Mit ihrem entschlossenen aber eher sanftmütigen Wesen war die Göttin des Herdfeuers ihrer Mutter wohl am ähnlichsten. Und Libanu genoss es, manchmal einfach schweigend neben ihrer Tochter zu sitzen, deren nie ruhende Hände immer irgendetwas strickten, malten oder buken.
Heute indes war die Muttergöttin ein wenig unkonzentriert und rastlos. Ohne es wirklich zu merken, fuhren ihre Finger immer wieder kleine Kreise in der Luft und ließen kleine Pflanzen sprießen. Moos, kleine Gräser, Gänseblümchen.
"Mutter.", kommentierte Cunna das gedankenlose Tun der Lebensgöttin, ehe sie ihren Kopf in die Richtung wandte, aus der das Knallen ertönt war. Ein weiteres erklang, doch keine der beiden Göttinnen schien dadurch erschreckt. Libanu ließ die Hand sinken und wandte sich ebenfalls zur Tür.
Nur wenige Augenblicke später kam Ludia hereingestürmt. Als einer der jüngeren Göttinnen mit einem fröhlichen, verspielten und manchmal sehr energischen Lebens war sie für ihre Rolle als Göttin des Glücks und der schönen Künste wie geschaffen. Aber traf das nicht auf alle Götter zu?

Heute indes wirkte Ludia weder glücklich noch verspielt sondern vielmehr im höchsten Maße unzufrieden. Mit einem Schnaufen ließ sie sich neben Cunna sinken, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Mutter und Schwester abwechselnd an, darauf wartend, dass man ihr das Wort erteilte.
"Mein Kind, was macht dich so rastlos und unzufrieden?", wandte Libanu sich an die jugendliche Göttin, deren Gesicht vor lauter Ärger auf sinnliche Art und Weise gerötet war - perfekt passend zu den etwas zerzausten Haaren die sich in ihrem Gesicht kringelten.
"Wie lange wollen wir diese Düsternis noch ertragen, die Tunkali über Britannia gebracht hat? Ich war gerade erst wieder dort, um in meinem Tempel nach dem Rechten zu sehen, aber wenn ich dorthin komme, verspüre ich so gar kein Bedürfnis mehr, irgendwem Glück zu schenken. Ich ärgere mich einfach nur". Es hätte nicht viel gefehlt, und Ludia hätte mit dem Fuß auf den Boden gestampft.
"Hm", machte ihre Mutter. "Ich verstehe dich. Keiner von uns hat wohl erwartet, dass Tunkali die Insel dieses mal so erfolgreich ins Ungleichgewicht bringt. Trotzdem glaube ich, dass die Menschen ihre Prüfung noch bestehen und die Dunkelelfen zurück in ihre Löcher drängen werden, wie sie es immer tun."
"Und die Elfen", warf Cunna ein wenig gedankenverloren ein. Sie war schon wieder mit ihrer Handarbeit beschäftigt, einer zauberhaften, kleinen Stickerei mit zarten Blüten.
"Ja, die Elfen natürlich auch", gab ihre Mutter nach.
"Und die Zwerge", setzte Cunna nach.
"Ja, selbstredend, die Zwerge."
"Und die Drachen."
"Die auch."
"Ach jetzt lasst mich doch mit diesem ganzen Gekröse in Ruhe. Die Menschen sind nun einmal am stärksten dort vertreten. Und das ist ja auch gar nicht Kern der Sache!", mischte Ludia sich erregt ein. "Mir ist egal, was Tunkali sich da wieder an Leid und Demut ausgedacht hat, ich habe keine Lust mehr, zu warten, bis sie damit fertig ist."
"Und was hast du vor, mein Kind?", wandte Libanu sich nun mit neugierigem Blick an das Göttermädchen.
"Tja", machte dieses ein wenig ratlos und für eine kurze Weile sahen sich die beiden Herrinnen schweigend an.
Schließlich war es Cunna, die die Stille durchbrach. "Schenken wir den Menschen etwas, das ihnen Gutes bringt", schlug sie ein wenig geistesabwesend vor.
"Und was? Noch eine Wunderwaffe, ein Zauberwesen oder irgendeine Fähigkeit?", hakte Ludia nach.
"Nein, ich dachte eher... erinnert ihr euch noch an den Feenbaum? Es ist sicher über hundert Jahre her, dass wir ihn nach Britannia gebracht haben, aber irgendwie hat sich niemand von uns darum gekümmert, ihn auch zu erwecken." Libanu tippte sich nachdenklich mit dem Finger an die Unterlippe. "Er ist mit vielen guten Fähigkeiten gesegnet und völlig frei von der Eigenschaft, Schaden zuzufügen. Wenn er erwacht, kann er die Menschen erfreuen und vieles mehr."
"Oh, der Feenbaum!", erwiderte Ludia nun mit sichtbarem Enthusiasmus. "Die kleinen, frechen, hilfsbereiten Feen! Sind sie noch dort?"
"Ich nehme an, sie schlafen und warten darauf, dass sie gebraucht werden", antwortete Libanu sanft.
"Aber erwecken müssen sie die Bewohner Britannias. Sonst funktioniert der Zauber des Baumes nicht", warf Cunna mit ihrer sanften Stimme ein.
"Und schützen sollten sie ihn", nickte Libanu bestätigend. "Es würde mich sehr traurig machen, wenn irgendjemand ihn missbrauchen oder sogar abholzen will."
"Wer will hier wen abholzen?", mischte sich eine neue Stimme ein. Eine weitere Göttin trat hinzu, mit hellem Haar und einer Gestalt so zart, dass sie wie die Verkörperung der Reinheit wirkte.
"Tycuahele", lächte Libanu und streckte der Göttin ihre Hand entgegen, um sie sanft zu drücken. "Ich wusste, dass deine Neugier geweckt wird, wenn jemand mit den Türen knallt."
In begeisterten Worten weihte Ludia die Hüterin der Elfen in den Gedankengang der Göttinnen ein.
"Es wäre ein unsägliches Verbrechen, ein solches Geschenk zu missbrauchen", erklärte Tycuahele mit Trauer in der Stimme. "Aber das wird euch hoffentlich kein Grund sein, es nicht zu tun? Es ist eine wunderbare Idee und alle Völker könnten durch dieses Geschenk gesegnet sein."
"Dann seid ihr also alle einverstanden?" Libanu sah die anderen Göttinnen fragend an und erhielt einstimmiges Nicken. "Gut, dann soll es so sein. Wir werden eine unserer Botinnen schicken. Sie soll denen, die sie trifft, die Aufgabe stellen, den Feenbaum zu erwecken. Möchte eine von euch das übernehmen?" Als sich nicht sofort jemand regte, schnippte die Göttin mit den Fingern. "Ach, ich weiß schon, wen wir nehmen."

Ohne ein Wort zu sagen, richtete Libanu den Blick auf eine leere Stelle, die im Kreis der Göttinnen bestand. Nur einen Augenblick später materialisierte sich dort die Gestalt einer irgendwie alterslosen Frau. Sie war in ihrem Erscheinungsbild ihrer Göttin nicht unähnlich, hatte aber eigene Gesichtszüge und eine andere Frisur.
"Mein Kind", richtete Libanu das Wort an ihre Sendbotin. "Hast du Lust, für eine Weile in deine Heimat zurückzukehren? Ich habe eine Aufgabe für dich."
"Herrin, ich würde sehr gerne sehen, wie Britannia sich seit meinem Weggang verändert hat. Welche Aufgabe hast du für mich?"
In kurzen Worten erklärte Libanu ihrer Botin, was sie vorhatte. Die anderen Göttinnen lauschten, zwei vor Aufregung kichernd, eine immer noch auf ihre Stickerei konzentriert, aber ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen.
"Ich verstehe, und werde mich umgehend darum kümmern", erwiderte die Botin und nur einen Augenblick später war die einst so gerühmte Heilerin verschwunden.

"Geben wir den Menschen trotzdem schon ein kleines Zeichen", erklärte Cunna. Mit einer sanften Geste ihrer Hand löste sich die hübsche Blüte aus der Stickerei und verschwand...
...nur um an einem unscheinbaren, alt aussehendem und irgendwie deplatziert wirkenden Baum mitten in Britannia wieder aufzutauchen.
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