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Alt 16.05.2022, 14:21
#13
Julie Melan
Spieler, Mensch
 
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Noch lag die Welt im Dunkeln da, doch ein schmaler Streifen rotgoldenen Lichts am Horizont kündigte den Aufgang der Sonne und somit einen neuen Tag an. Mit einer Tasse warmer Milch bewaffnet und in eine grobe Wolldecke gehüllt saß Julie auf der Terrasse ihres Hauses und sah auf das Meer hinaus, dem Sonnenaufgang entgegen. Sie schlürfte an der Milch, die sie mit einem Löffel Honig gesüßt hatte. Wie lange war es her, dass sie sich eine solche Auszeit gegönnt hatte? Wie lange hatte sie ihren Gedanken nicht erlaubt sich zu verselbstständigen. Zu lange...

Die Schrecken, die sie einst durchleben musste, hatten ihre Gedanken lange Zeit wie gelähmt. Sie hatte sich nicht mehr die Zeit genommen vergangene Ereignisse zu reflektieren. Aus Angst, dass die Schrecken sich wie ein dunkler Schatten über ihren Geist legen und sie jenen nie wieder loswerden würde. Sie hatte gelernt zu funktionieren. Hatte sich in die Arbeit gestürzt, ihre Bemühungen mehr und mehr gesteigert und war in ihrem Schreinerhandwerk aufgegangen.

Als sie an diesem Morgen die Augen aufschlug, war etwas anders als sonst. Es war gefühlt noch mitten in der Nacht und vor einigen Jahren wäre dies auch nicht ungewöhnlich für sie gewesen, da sie eine Frühaufsteherin war. Ein Umstand, der sich jedoch geändert hatte, seit sie nicht mehr allein nächtigte. Der Körper, an den sie eng angeschmiegt lag, war ihr so vertraut wie ihr eigener. Das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs, sein Atem der über ihre Haare strich. Seine Hand, die unter der Decke auf ihrem Schenkel ruhte. Sie versuchte wieder einzuschlafen, doch da war eine Unruhe in ihr, die sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Es war ihr, als ob etwas an die Oberfläche dringen wollte, was sie zu lange unter Verschluss gehalten hatte. Still und vorsichtig befreite sie sich aus seinem Griff um ihn nicht zu wecken. Sie wickelte sich eine Decke um ihren Leib und verließ leise das Schlafzimmer. Nur Eira hob träge den Kopf, doch nach einem leise geflüsterten „Schlaf weiter“, hatte die junge Dogge ihren massigen Kopf wieder auf das Fell gebettet.

Ihr Weg führte sie in die Küche runter. In einen Topf füllte sie etwas Milch, die sie langsam erhitze. Sie goss jene in einen Becher und rührte einen süßen Löffel Honig unter. Das leise Klingen des Löffels an die Innenseite des Bechers ließ sie innehalten. In jenem Moment kam ihr das Geräusch wie ein Gong vor, ein Startzeichen, ein Weckruf. Sie wusste plötzlich woher diese Unruhe kam. Da waren zu viele Gedanken in ihr, die reflektiert werden wollten. Zu viele Erinnerungen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass die schlimmen Kapitel ihres Lebens bereits drei Jahre zurücklagen und sie sich seither keine bewusste Zeit mehr genommen hatte für sich und ihre Gedanken. Ein Umstand, den sie umgehend ändern musste.

Und nun saß sie hier, eingewickelt in eine Wolldecke, auf einem altvertrauten Platz, mit einem Becher warmer Milch in ihren Händen. Sie konnte beobachten wie der Himmel in der Ferne noch mehr Farben annahm und wie sich die glutrote Scheibe der Sonne langsam über den Rand des Horizonts schob. Das Licht vertrieb die dunklen Erinnerungen, die sich in ihre Gedanken schleichen wollten. Die Trennung von Herrn Sasperus lag weit zurück ebenso wie ihre Versöhnung. Diese Zeit war voller Gefühle und voller Schmerzen gewesen und sie mochte sich nicht mehr im Detail daran erinnern. Aber diese Monate hatten sie auch stärker werden lassen, sie geformt und nun war ihre Beziehung gefestigter denn je und sie untrennbar miteinander verschmolzen.

Selbst Ihre Entführung lag mittlerweile drei lange Jahre zurück. „Ashryn...“, der Name drang ihr leise und voller Abscheu über die Lippen, sie spie ihn regelrecht aus. Nein, dieser Mann sollte keine Gewalt mehr über ihr Leben und ihre Gedanken haben. Es gab keinen Platz für ihn. Sie hatte ihn nie wieder sehen müssen und der dunkle Zauber, den er um sie herum gewoben hatte, hatte keine Schäden an ihrem Körper hinterlassen. Alles war gut.

Die Sonne schob sich höher und Julie kniff die Augen zusammen als das Meer zu glitzern begann. Was war nach diesen dunklen Monaten in ihrem Leben geschehen? Da war doch viel mehr Licht als Schatten gewesen. Sie musste sich nur erinnern.

Zum Beispiel an den großen Völkermarkt, den sie auf dem Marktplatz in Britain veranstaltet hatte. Die Resonanz war atemberaubend gewesen. So viele Aussteller verschiedener Gewerke hatte man lang nicht mehr auf einem Haufen gesehen und die Besucher waren in Scharen herbeigeströmt. Dieser Tag war ein voller Erfolg gewesen und hatte sie ermutigt weitere Märkte zu veranstalten wie etwa im gleichen Jahr den Herbstmarkt oder im letzten Winter den Kunsthandwerkermarkt. Sie hatte entdeckt, dass es ihr Vergnügen bereitete Feste und Veranstaltungen zu organisieren, auch wenn dies nicht immer leicht war. Doch die Rückmeldungen der Besucher bestätigten ihr jedes Mal, dass sie das, was sie tat, gut war und die Leute erfreute. Mit einem Schmunzeln dachte sie an den Geschichtenabend, der so völlig aus der Art geschlagen war und überhaupt nichts mit ihrem Handwerk gemein hatte und den eigentlich Jeder hätte organisieren können. Aber ja, oft brauchte es Jemanden, der die Zügel in die Hand nahm und den Anstoß gab. Sie seufzte leise auf. Es war ein unfassbar schöner Abend gewesen, den sie eigentlich im Frühjahr hatte wiederholen wollen. Doch die Zeit war ihr wieder einmal unaufhaltsam durch die Finger geronnen.

Doch die Märkte waren nicht das Größte gewesen, was sie vollbracht hatte. Sie erinnerte sich an das Projekt, dass ihr der Herzog, damals noch seine Hochwohlgeboren Graf von Britain, anvertraut hatte. Der Bau eines Zweimasters für Ihre Hoheit Maer von Britannia, inzwischen Königin von Vestlizien. Sie war gerade mal 19 Jahre jung gewesen, als sie diesen Auftrag erhalten hatte – und heillos überfordert damit. Eigentlich hatte sie nur um Erlaubnis gebeten sich in der Werft von Valarian im Schiffsbau üben zu dürfen, kurz darauf war sie auch schon zur Leiterin eben jener Werft ernannt worden. Ihre Bemühungen Werftmeister Arasus ausfindig zu machen, verliefen im Sande, ebenso wie ihre Versuche bei den Elfen einen Schiffsbauer ausfindig zu machen, von dem sie lernen konnte. So blieb ihr nichts anderes übrig als sich autodidaktisch die nötigen Fertigkeiten und Fähigkeiten zu lehren. Zum Glück hatte ihr der Herzog Zeit gelassen, sodass sie sich langsam steigern konnte. Drei kleinere Schiffe entstanden, bis Julie endlich den Mut fasste, sich an das Projekt Zweimaster zu wagen. Über ein Jahr dauerte der Bau, unterbrochen von dem Gerücht einer Dämonensichtung über Falkenstein, das sich jedoch als unbegründet herausstellte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Plötzlich drängte die Zeit, der Zweimaster musste fertig werden, denn er sollte Ihrer Hoheit Maer zur Abreise aus Britannia zum Geschenk überreicht werden. Mit Hilfe vieler Freiwilliger konnte Julie schließlich den Bau stemmen und abschließen. Stapellauf und Jungfernfahrt verliefen problemlos und am 23. Estif des Jahres 1335 erfolgt die Übergabe. Ein Datum, dass sich Julie auf ewig in den Kopf gebrannt hatte. Es gab ein Fest zu Verabschiedung Ihrer Hoheit Maer, da sie zukünftig als Königin von Vestlizien regieren würde, Seine Hochwohlgeboren von Britain wurde zum neuen Herzog über das Inselreich Britannia ernannt und Julie ... Julie erhielt, ausgehändigt durch Seine Majestät König Jori I., von der Handwerksgilde Faerlans ihren Gesellenbrief.

Die junge Frau nahm noch einen Schluck von ihrer Milch und ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie konnte nicht sagen, ob es dem Getränk zuzuschreiben war oder dem Gedanken an das Pergament, das sicher in einer Vitrine in ihrer Schreinerei auslag. Ihr Gesellenbrief. Ein glückliches und zufriedenes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, breitete sich immer weiter aus, bis sie grinsend wie ein Honigkuchenpferd dasaß. Ja, es war schon früh ihr Ziel gewesen eines Tages einen solchen Brief in Händen zu halten. Ein Traum, den sie sich zu erfüllen versuchte und in den sie so viel ihrer Energie steckte. Sie hatte keine Arbeit gescheut, private sowie öffentliche Aufträge angenommen und war schließlich belohnt worden. Es war ein wundervolles Gefühl, die Gewissheit um dieses Renommee, dass ihr Seine Hoheit bereits vorab angekündigt hatte. Ob er wohl eine Ahnung gehabt hatte? Sie kuschelte sich tiefer in die Decke und eine Welle des Glücks schwappte durch ihren Körper. Ja, man hätte fast sagen können, sie platzte vor Stolz ob ihres Erfolgs. Und doch, wenn man sie offen darauf ansprach, gab sie sich bescheiden. Es lag ihr nicht zu prahlen.

Sie reckte und streckte den Körper. Die Sonne stieg höher und sie linste über die Balkonbrüstung hinweg, runter zu dem Schatten, der gerade durch den Garten zum Hinterhaus huschte. Voller Vorfreude hob sie die Mundwinkel, dann gingen ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft. Sie erinnerte sich an die kleinen Dinge, die eigentlich keiner Erwähnung bedurften und doch wichtige Momente in ihrem Leben waren. Das Schlagen der Schneise bei der kleinen Bergwerksiedlung nördlich Britains. Der Unterricht bei Viridian und Fil, als sie den Umgang mit einer Armbrust erlernen wollte. Torkas, der zu einem Kollegen im Holzhandwerk wurde. Die Erneuerung einiger Möbel im Atelier des Handelshauses, die Opfer eines feigen Brandanschlags wurden. Die Einrichtung der Räumlichkeiten der „Helfenden Hand“. Kurz zog sich ihr Magen etwas zusammen, als sie an Leandras Schicksal dachte. Sie sollte sich bei ihr melden und fragen wie es ihr geht.

Im Wyzzin des Jahres 1335 dann das schwere Unwetter. Sintflutartig war der Regen auf Britannia nieder gegangen und ward durch die Straßen gespült. Zahlreiche Gebäude wurden beschädigt, es gab Todesfälle zu beklagen. Julie war im Dauereinsatz gewesen und dem Zusammenbruch nahe. Sie wusste nicht mehr, wie viele Reparaturen sie durchgeführt hatte. Das Dach des Lachenden Talas und des herzoglichen Warenlagers und die provisorische Brücke vor den Schlossgründen in Britain, waren nur einige Stationen auf ihrer Liste gewesen. Gerade die Brücke bereitete ihr noch immer Kopfzerbrechen. Sie hatte lediglich als Provisorium dienen sollen und musste nun schon eineinhalb Jahre halten. Lange würde das nicht mehr gut gehen, doch Kommunikationsprobleme und wechselnde Zuständigkeiten führten zu immer weiteren Verzögerungen. Erst vor wenigen Tagen hatte sie mit Schmied Kervos Zugang zur Wehranlage gewährt bekommen. Nun mussten noch einige Berechnungen durchgeführt und Tabellen zu Rate gezogen werden. Dann würde sie diese Baustelle endlich zum Abschluss bringen können. Hoffentlich.

Sie sah in ihren Becher und schwenkte kurz den Restschluck Milch, der noch verblieben war. Dabei zog sie nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Knapp ein Jahr war es nun her, dass Lennard vor ihrer Tür gestanden hatte; einen alten, verwitterten Aushang in der Hand. Er bewarb sich bei ihr auf die Stelle als Schreinerlehrling und Julie, voller Euphorie, hatte ihn direkt aufgenommen, denn sie war schon lange auf der Suche gewesen. Doch die Freude hielt nicht lang. Zwar spürte Julie, dass in Lennard das gleiche Feuer wie in ihr brannte, die Leidenschaft zum Rohstoff Holz und zum Handwerk des Schreinerns, doch schien er auch noch andere Absichten zu haben. Erst jetzt im Nachhinein, wurde ihr seine Süßholzraspelei bewusst, die ihr die Schamesröte auf die Wangen trieb. Der gestohlene Kuss auf die Wange und dass er versucht hatte einen Keil zwischen Symon und sie zu treiben, hatten das Fass dann zum Überlaufen gebracht. Lennard beendete sein Ausbildungsverhältnis keine sechs Monate nach dessen Beginn. In einem Brief hatte er Julie mitgeteilt, dass er wieder auf Wanderschaft gehen wollte. Es hatte der jungen Schreinerin damals die Tränen in die Augen getrieben. Sechs Monate hatte sie ihm Zugang in ihre Werkstatt gewährt, wollte ihn an ihrem Wissen teilhaben lassen und als Dank erhielt sie einen schnöden Abschiedsbrief.

Julie hob den Becher an und leerte ihn in einem Zug. Sie straffte die Schultern. Diesen wunderschönen Morgen würde sie sich nicht durch trübe Gedanken zerstören lassen! Als der köstliche Duft von frisch gebackenem Brot vom Hinterhaus zu ihr hinüberzog, klärte sich ihr Blick und ein Lächeln trat auf ihre Züge. Sie würde nun hinein gehen und sich leise anziehen. Sicherlich würde gleich Lian vorbei kommen und nach ihren Ponys sehen. Dann würde sie zu Lina in die Backstube gehen und sich etwas vom Brot stibitzen und mit einem leckeren Frühstück am Bett würde sie dann Herrn Sasperus wecken. Sie schmunzelte auf. So viel Leben hatte noch nie auf ihrem Hof geherrscht. Aber es gefiel ihr.
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