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Alt 05.02.2020, 15:36
#7
Julie Melan
Spieler, Mensch
 
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„Wir müssen echt mal an deinen Selbstzweifeln arbeiten,“ Anas Worte hallten in ihren Ohren wieder. „Ich weiß… Herr Sasperus versucht es auch immer wieder.“

Julie kniff die Augen fester zusammen, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ihr Kopf war wach, die Gedanken begangen zu arbeiten, drehten sich im Kreise und drohten sie wieder in diesen Strudel aus Selbstmitleid hinabzuziehen. Mit einem ungehaltenen Schnaufen drehte sie sich im Bett von der einen auf die andere Seite, starrte in das Dunkel. „Schluss jetzt, so kann das nicht weitergehen.“ Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und verließ barfuß das Schlafzimmer. Der Saum ihres Nachthemdes spielte dabei um ihre bloßen Knöchel.

Sie trat auf den Balkon hinaus und die kühle Nachtluft ließ sie sogleich frösteln. Eng schlang sie die Arme um ihren Leib und ging ein paar Schritte über den Balkon. Es war mitten in der Nacht. Zu dieser Uhrzeit war fast niemand mehr auf den Straßen unterwegs und ihr Haus lag etwas abseits – wer sollte sie da also schon sehen, wie sie wie ein Nachtgespenst in ihrem weißen Nachthemd über den Balkon wandelte. Sie richtete den Blick nach Osten, sah über das Meer, blickte bis zum dunklen Horizont, wo sich noch keinerlei Anzeichen für den neuen Tag abzeichneten. Es war dunkel, finster und die gleiche Finsternis umschloss auch ihr Herz. Sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht.

Sie hätte ihre Reise niemals antreten dürfen. Seitdem war alles anders. Doch es waren ihre Eltern gewesen, die einen Hilferuf nach ihr geschickt hatten, also war sie jenem gefolgt. Der häusliche Unfall ihrer Mutter, der große Auftrag, der ihre Eltern in eine sicherere Zukunft führen sollte und nun zu platzen drohte, da ihre Mutter aufgrund ihrer Verletzung nicht richtig arbeiten konnte. Wie hätte sie ihnen jene Bitte abschlagen können. Sie bereitete ihnen doch ohnehin schon genug Kummer indem es sie immer wieder fort aus ihrer Heimat zog, zurück in das Herzogtum Britannia, zurück zu ihren Freunden. Hier hatte sie sich etwas aufgebaut, sich einen Namen gemacht – doch nun, seit sie zurück war, hatte sie das Gefühl vor einem Scherbenhaufen zu stehen. Als wären die letzten drei Jahre völlig umsonst gewesen. Dass das Unsinn war wusste sie natürlich. Irgendwo, in ihrem Hinterkopf. Doch dieses Wissen hatte nicht genug Kraft die ungeliebten Zweifel beiseite zu schieben.

Sie war enttäuscht. Von sich selbst und von anderen die sie kaum bis gar nicht kannte. Sie war wütend auf jene, die ihr noch nie begegnet waren und abweisend zu den Personen, die ihr vielleicht eine Stütze sein konnten. Dem ehemaligen Seemann war sie viel zu forsch gegenüber getreten. Doch die Angst, die an ihrem Herz nagte, er könnte ihr ihre Werft streitig machen, hatte sie ihre gute Erziehung, ihre höflichen Umgangsformen und ihr offenes Auftreten vergessen lassen. Sie schämte sich dafür. Und auch vom Grafen war sie enttäuscht. Sie wusste nichts Genaueres. Ana hatte ihr nur erzählt, dass sie Teppiche für die Kathedrale geknüpft hatte um dessen Einrichtung sich nun der Graf persönlich kümmerte. „Alles geht nun seinen Weg,“ hatte er wohl gesagt und Julie spinnte sich den Rest zusammen. Bestimmt hatte ein anderer Schreiner den Auftrag für die Möbilierung erhalten. „Warum nicht ich?“ schrie das Herz der jungen Frau. „Weil du nicht da warst…“ flüsterte sie leise in die Nacht.

Es ging ihr nicht um das Gold. Nicht um die Inschrift ihres Names, der die zukünftigen Kirchenbänke zieren könnte. Nein, sie wollte diese Referenz. Sie wollte stolz erhobenen Hauptes berichten können, dass sie an der Einrichtung der Kathedrale beteiligt gewesen war. Und zu dem noch die Werft führte. Sie hatte sich den Respekt des Grafen verdient, konnte immer zu ihm kommen. „Ha!“ Ein kurzes, trockenes Lachen drang raus aus ihrer Kehle und endete abrupt, als ob ihr die Luft wegblieb. Sie nahm sich zu viel raus, der Höhenflug benebelte ihre Gedanken. Hochmut kommt vor dem Fall. Er fand keine Zeit für sie und vergab keinen Auftrag. Krampfhaft suchte sie nach den Fehlern, die sie gemacht hatte, doch sie fand sie nicht. „Dich trifft keine Schuld… niemand trägt die Schuld… du warst nicht da.“ Obwohl sie die Worte wie ein Mantra selbst vor sich hin flüsterte, war es ihr, als würden jene direkt vom Wind über das Meer an sie herangetragen.

Vielleicht war alles einfach zu viel für sie. Die Verantwortung die sie trug lastete schwer auf ihren Schultern, drohte sie herab zu drücken. Sie war doch noch ein Mädchen. In wenigen Wochen wurde sie erst 20 Jahre alt und hatte doch schon so viel erreicht. Zuviel in zu kurzer Zeit? Sie erinnerte sich an das berauschende Gefühl, das ihr die vielen Kundenaufträge in der Vergangenheit vermittelt hatten. Nun war es stiller um ihre Person geworden, obwohl sie immer noch gut zu tun hatte und sie manchmal nicht wusste wo sie anfangen oder weitermachen sollte. Die Zahl der Kundenaufträge hatte abgenommen ja, doch mit ihren eigenen Projekten war sie immer noch gut ausgelastet.

Sie war die letzten Jahre gerannt, immerzu auf der Überholspur. Höher und weiter. Jetzt verlagerten sich die Dinge und erstmals bestimmten nicht mehr nur die Kundenaufträge ihr Leben, sondern es lag selbst in ihrer Hand die Prioritäten zu verteilen. Ein ganz neues, unbekanntes Gefühl. Es ängstigte sie ein wenig. Sie wusste nicht richtig damit umzugehen. Doch es zu lernen, das gehörte wohl zum Erwachsenwerden dazu. Erwachsenwerden war scheiße.

Ein langgestrecktes Seufzen drang von ihren Lippen. Sie musste endlich diese Selbstzweifel los werden, wieder mit sich ins Reine kommen. Sie musste sich eine Scheibe von Ana abschneiden, die mit so viel Herzlichkeit durchs Leben ging, die die Sonne aufgehen ließ und sich nichts daraus machte, wenn man einer anderen Schneiderin den Vorzug gab. Sie musste endlich wieder ihre Übungen aufnehmen, meditieren um ihre innere Mitte wiederzufinden und Ruhe darin suchen. Herr Sasperus würde ihr dabei helfen, da war sie sich ganz sicher. Er war die feste Konstante in ihrem Leben, seit sie ins das Herzogtum gekommen war. Mit seiner ruhigen und besonnenen Art schaffte er es immer wieder sie auf den Boden zurückzuholen, wenn ihr ihre Jugendlichkeit und die damit verbundenen Ausraster für vermeintliche Nichtigkeiten im Weg standen. So viele hatte sie bisher kommen und gehen sehen, doch er und Ana gehörten zu den Pfeilern, auf die sie sich immer wieder stützen konnte. Sie waren ihre Freunde – und hätten eigentlich das perfekte Paar abgegeben.

Als sich am Horizont ein zarter, silberner Streifen abzeichnete wurde ihr bewusst, dass sie sich viel zu lange auf dem Balkon aufgehalten hatte. Ihre bloßen Füße fühlten sich wie Eisklötze an und die Gänsehaut, die ihre nackten Arme bedeckte, hätte ausgeprägter nicht sein können. Diese Frühlingsnacht war eindeutig nicht die richtige Zeit um stundenlang auf den Balkon zu stehen und Trübsal zu blasen. Sie kehrte ins Haus zurück, durchquerte ihre Wohnung, die angrenzende Ausstellung und ging hinunter in den Keller. Nachdem sie das Badezimmer betreten hatte, streifte sie ihr Nachthemd von ihrem ausgekühlten Körper und stieg in die Wanne, in der eine kleine Kugel aus scheinbar lebendigen Feuer schwamm und das Wasser angenehm erhitzte. Das heiße Bad würde hoffentlich helfen eine drohende Erkältung abzuwenden. Selig seufzend ließ sie ihren Körper in das warme Wasser gleiten, lehnte den Kopf an den Beckenrand und schloss die Augen.
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