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Alt 21.03.2020, 16:30
#8
Julie Melan
Spieler, Mensch
 
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Der Wind frischte auf und wirbelte einige Blätter durch das Tor zur Werft hinein. Der Herbst hatte sich über das Land ausgebreitet, das Laub an den Bäumen bunt gefärbt. Es war merklich kühler geworden und windiger. Schon bald würden die Loricastürme über das Land ziehen und dann würde es richtig ungemütlich werden.

Dem Wetter zum Trotz lehnte sie an einem der Gerüste und beobachtete das kleine Boot auf dem Kielstapel, welches der Wasseroberfläche immer näher kam. Schon vor Stunden hatte sie die Fluttanks des Schwimmdocks geöffnet und das Meerwasser floss träge in diese hinein. Nach und nach füllten sich die Tanks, beschwerten die Plattform die sich zuvor noch über der Wasserlinie erhoben hatte und ließen sie absinken. Mittlerweile hätte man jene nicht mehr trockenen Fußes betreten können. Sie war bereits eine Handbreit unter Wasser gesunken und würde noch weiter sinken, bis auch der Kielstapel, auf dem das kleine Boot lag, vom Wasser umschlossen würde. Und dann noch weiter, bis das kleine Boot endlich von selbst schwimmen würde. Wenn es denn schwimmen würde…

Sie nagte aufgeregt an ihrer Unterlippe und ging zum wiederholten Male im Kopf den Aufbau des Bootes durch. Hoffentlich hatte sie keinen Fehler gemacht, nichts vergessen. Viele Wochen und Monate Arbeit steckten in diesem kleinen Boot, diesem Projekt, das sie ohne die Hilfe von Freunden und Freiwilligen niemals hätte allein stemmen können. Sie war unendlich dankbar dafür, dass Cunna ihr so tatkräftige Unterstützung gesandt hatte. In welcher Form auch immer. Ein Jeder hatte sein Bestes getan, was in seinen Möglichkeiten stand um den Bau dieses Bootes verwirklichen zu können.

Der leise Klang der Wellen, die gegen die Bootswände schwappten ließ sie für einen Moment den Atem anhalten. Jetzt ging es immer schneller hinab. Die Plattform senkte sich weiter unter Wasser und auch der Kielstapel war kaum mehr zu sehen. Die Wellen leckten an den Außenwänden des kleinen Bootes und Julie schickte ein weiteres Stoßgebet gen Himmel und hoffte auf die Dichtigkeit der Planken.

Alle Arbeit wäre umsonst gewesen, wenn sich nun ein Leck auftun würde durch welches das Wasser ins Bootsinnere dringen könnte. Der Geruch des Holzpechs zog in ihre Nase. Die schwarze, teerartige Masse köchelte in etwas Entfernung in einem alten Kessel vor sich hin. Nur für den Fall der Fälle. Falls sie doch noch einschreiten musste. Sie besann sich auf die Tage des Kalfaterns. Sie hatte viel Unterstützung gehabt. In die schmalen Nahtstellen zwischen den Planken hatten sie Baumwollfasern gedrückt und eingeschlagen und anschließend mit dem heißen Pech versiegelt. Diese Arbeiten hatten sich über mehrere Tage gezogen und auch das Abschleifen der überstehenden Pechreste hatte einige Stunden in Anspruch genommen. Doch es sollte ja auch ordentlich sein. Die Optik musste auch stimmen. In dieser Hinsicht war sie schon immer pingelig gewesen.

Vorsichtig balancierte sie über die schmale Planke und trat auf das Bootsdeck. Es war ein merkwürdiges Gefühl als das Boot unter ihren Füßen in den sanften Wellen leicht schaukelte. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie musste schmunzeln. Seereisen hatte sie noch nie besonders gut vertragen, aber in der Werft seekrank zu werden war wohl etwas übertrieben. Nein, dieses komische Gefühl rührte woanders her. Diese unterschwellige Aufregung. Diese freudige Erregung. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Dieses Boot schwamm. Von ganz alleine.

Mit den Fingerspitzen tastete sie die Innenwände ab, ließ sie über die Nahtstellen und das glatte Holz wandern. Der Duft des Holzes strömte ihr in die Nase, zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Es war dicht, kein Wasser drang ein. Die aufkeimenden Glücksgefühle konnte sie nicht länger unterdrücken. Tränen traten ihr in die Augenwinkel. Sie schniefte leise. Wie albern das war… doch niemand konnte wohl in diesem Moment die Gefühle nachvollziehen die sie verspürte. Eine ungeheure Last fiel von ihren Schultern ab. Sie hatte es geschafft.

Die Fertigstellung ihres ersten Bootes wurde von der Trauer um die Frau des Grafen überschattet. Sie hätte sich gerne einen glücklicheren Moment ausgesucht, doch es lag nicht in ihrer Hand. Sie würde ausharren. Der Trauer ihre Zeit einräumen, die sie benötigte und dann wieder nach vorne sehen. Das Leben würde weiter gehen. Warum also nicht ein Fest planen um den erzielten Erfolg zu feiern?
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