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Alt 25.08.2012, 10:32
Blind!
#1
Senria Frenn
Reisender
 
Registriert seit: 28 Apr 2012
Beiträge: 7
Langsam wurde es warm. Es dauerte etwas, bis der Kamin endlich zog und das Feuer im Ofen entfachte. Er musste wohl wieder gereinigt werden oder hing es doch nur mit dem dunstigen, kalten und nebligen Wetter draußen zusammen?
Langsam, nur ganz langsam kroch die Wärme unter den Dicken Stoff ihres Mantels. Die letzten Schneeflocken auf der äußeren Haut des Stoffes schmolzen dahin, kleine Wasserfäden suchten ihren Weg gen Boden.
Langsam öffnete sie die Knöpfe und Schnallen des Mantels. Es war schön, wieder eine wohlige Wärme auf dem Körper zu spüren. Es war schön, endlich diesen Ballast von Stoff vom Körper zu bekommen. Schön, endlich zu Hause zu sein.
Langsam dürfte es im Raum etwas heller werden, einzig vom Feuerschein des Ofens erhellt. Aber dass interessierte sie nicht. Sie würde es ohnehin nicht sehen. Helligkeit, Finsternis, Farben und Schatten, dass alles war für sie einerlei. Zählen taten nur andere Sachen.
Langsam nahm sie ihre Augenbinde ab, das Stück Stoff, dass sie trug, um andere nicht zu verschrecken. Das Stück Stoff, dass ihr einen gewissen Abstand zur Welt und ihren Bewohnern brachte. Ein Stück Stoff, dass wie eine Mauer wirkte. Ihre Mauer, hinter der sie sich verbergen konnte.
Langsam, ganz langsam öffnete sie nun die Augen, ihre Augen, deren gänzlich die Farbe fehlte, schon von Geburt an. Suchend blickte sie sich umher. Sie sah die Zimmerpflanze in der Ecke, die bald wieder gegossen werden musste. Ein paar Käfer, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Und das Holz, aus welchem ihr Haus bestand.
Langsam hatte sich dies alles entwickelt. Mit vier oder fünf fing es an. Sie nahm umrisse von Licht wahr, mit den Jahren wurden sie stärker und schärfer. Und doch ging es dieses Jahr rasend schnell. Nach dem diese Druckwelle aus gleißendem Licht auf sie zuraste und sie umwarf, war alles beinah gestochen scharf. Selbst die feinen Äderchen eines Baumblattes konnte sie nun erkennen.
Langsam nur konnte sie sich von diesem Ereignis erholen. Die ersten Tage danach waren für sie wie ein Schock. Ihr war ständig schlecht und schwindlig, in ihrem Kopf tat es weh, die Welt blendete sie mit ihrer Lebenskraft. Es war, als würde alles in einem hellen Licht verschmelzen und brennen.
Langsam aber gewöhnte auch sie sich daran. Sie empfand es als schön, mehr von der Welt zu sehen. Nicht nur mehr Konturen sondern gar feste Umrisse, Formen. Sie erkannte jetzt sogar die kleinen Beeren an der Form, nicht mehr nur am Geruch oder dem Geschmack. Dieses Ereignis hatte ihre Welt bereichert. Und doch konnte sie es mit keinem Teilen. Fast keinem.
Langsam hatte sich ihr Herz in den vergangenen Monden geöffnet. Sie fühlte etwas, dass sie zuvor noch nie gefühlt hatte. Und doch wusste sie, dass sie sich diesem Gefühl nicht hingeben durfte, dass sie eine Aufgabe hatte und dass ihr Gefährte andere Qualitäten haben musste, als nur ein Gefühl für sie. Denn Gefühle konnten abebben. Langsam. Aber dennoch stetig.
Langsam hatte sie also die Prüfungen verschärft. Er hatte reagiert, wie sie es geahnt hatte. Aber er lernte schnell, machte immer wieder Fehler, aber dass gehörte dazu. Was ihn aber auszeichnete, war sein großes Durchhaltevermögen und sein Wille. Er schien unbeirrbar. Er wollte den Weg gehen und er ging ihn, egal, wie schmerzhaft er war. So er die letzte Prüfung bestand, hatte seine Beharrlichkeit zum Ziel geführt. Und doch hatte sie Angst, dass er bei dieser Prüfung versagte. Sie würde wohl im kommenden Frühling auf ihn warten. Und es gab keinen Weg daran vorbei.
Langsam schritt sie durch ihre vier Wände. Ein Zuhause, dass doch eigentlich keines mehr war. Mutter und Vater vergangen, zurückgekehrt zu den Ahnen. Und doch würden bald die Tage kommen, an denen sie versuchen könnten, für ein paar wenige Augenblicke den Weg zu ihr zurück zu finden. Fünf Tage, in denen sie wirklich blind war. Fünf Tage, in denen die Ahnen zurück auf die Welt kommen konnten. Fünf Tage, vor denen sie sich fürchtete, denn nicht nur die Seelen der Guten Ahnen konnten zurückkommen. Auch derer, die Verderben im Sinn hatten, konnten es.
Langsam würden sie kommen, langsam aber unaufhaltbar. Die Grauen Tage konnte niemand aufhalten, sie kamen jedes Jahr aufs Neue. Der Abschluss jedes Jahres, fünf Tage voller Grauen, Desorientierung und Schlaflosigkeit für sie. Jedes Jahr.
Langsam strich ihr ihre Mutter immer durchs Haar, bevor die Grauen Tage kamen. Langsam und voller Liebe. Sie müsse keine Angst haben, sagte sie immer. Die Ahnen sind da, um uns zu helfen, uns auf den rechten Weg zu bringen oder uns auf Gegebenheiten in unserer oder der anderen Welt hinzuweisen, um sie zu ändern. Und dennoch hatte sie jedes Jahr Angst. Angst vor den Gestalten, die scheinbar Ziellos umher irrten, durch Wände gingen und ab und an vor ihr inne hielten und sie anstarrten. Jedoch nie etwas zu ihr sagten. Dass machte es wohl am schlimmsten, dass sie sie ignorierten.
Langsam setzte sie sich auf ihr Lager, eine Schlafmatte, hatte sie doch alle Möbel verbrannt, nach dem ihr Vater gestorben war. Auszuschließen, dass er keine ansteckende Krankheit hatte, war leider unmöglich. Und so ging sie kein Risiko ein und räumte das Haus leer. Es dauerte einen ganzen Tag, bis es erledigt war.
Langsam züngelten dann die Flammen um den Haufen, stiegen in den Nachthimmel empor, griffen scheinbar nach den Sternen, nur um im nächsten Moment wieder zurück zu fallen. Dieses unberechenbare Leben, welches im Feuer steckte, es war so anmutig, schön und doch gefährlich. Wer mit dem Feuer spielte, spielte mit seinem Leben. Das war immer die Warnung ihres Vaters. Ab diesem Tag gab es aber niemanden mehr, der ihr eine Warnung geben konnte und sie schlug regelmäßig über die Strenge.
Langsam legte sie sich zurück und dachte an das vergangene Jahr. An die vielen Menschen, denen sie begegnet war, nette Menschen, komische Menschen, merkwürdige Menschen und auch gemeinen Menschen. An das Duell, welches sie ausgemacht hatte und schon mit Angst am Austragungsort ankam. Erleichtert war sie aber, dass er nicht kam.
Langsam schloss sie ihre Lieder über den weißen, konturlosen Augen. Wieder ging ein Tag vorüber, ein Tag wie viele. Ein Tag weniger in ihrem Leben. Im Leben aller. Zeit war so kostbar und man hatte nur so wenig. Und ihr Weg war so lang und beschwerlich. Sie wusste nicht, ob ihre Zeit ausreichen würde, um ihn bis zum Schluss zu gehen.
Langsam würde sie ihn nur gehen könnten. Mühsam würde er sein. Und dennoch würde sie den Steinen nicht ausweichen, welche man ich in den Weg legte. Und gleich morgen würde sie sich im Schnee wieder auf die Lauer legen, um diesen, sich selbsternannten Jäger ohne Wissen und können, endlich zur Strecke zu bringen. Viel zu viele Tiere hatte sie in diesem Jahr angeschossen vorgefunden, wild vor Schmerzen. Es war genug. Sie musste ihn endlich auf frischer Tat erwischen.
Langsam beruhigte sich ihr Atem. Warum regte sie sich nur so auf. Die Schöpferin allen Lebens würde ihn schon zu ihr führen, so sie es denn wollte. Sie brauchte Geduld und Zeit, mehr nicht.
Langsam, ruhig und friedlich schlief sie ein, auf ihrer Schlafmatte, neben dem Ofen, der immer noch Wärme spendete für den kleinen Raum ihres Hauses. In ihren Träumen war sie nicht blind, konnte aber dennoch nichts sehen.
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Alt 01.09.2012, 11:30
Sehend!
#2
Senria Frenn
Reisender
 
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Beiträge: 7
Da waren sie; die Grauen Tage. Wenn sie könnte, sie hätte und doch wieder nicht. Sie würde, wenn sie könnte, doch wusste sie, es ging nicht.
Sie gehörten zum Jahresablauf dazu, waren fester Bestandteil und doch die Unbeliebtesten fünf Tage im Jahr. Außer vielleicht bei den Anhängern des Namenlosen, ein Völkchen für sich, welches sie einfach nicht verstand. Wie konnte man den Tod mehr lieben als das Leben? War das Leben nicht etwas schönes und… lebenswertes?
War Leben nicht das höchste Gut, dass die Schöpferin Mutter alles Lebens einem jeden Geschöpf mit auf dem Weg gibt? Warum nur wollten sie es vorzeitig beenden, ja, sogar in eigener Regie?
Ihr wäre nichts bekannt im Tierreich oder sonst wo, dass so handeln täte. Liandrel hatte recht; der Mensch ist eigenartig und nicht zu verstehen.

Da waren sie. Ziemlich harte Worte, dennoch trafen diese genau das, an was sie im Moment denken musste. Wieder einmal waren sie einfach da. Unaufhaltsam, langsam, dennoch stetig, mit jedem Tag wuchs das Grauen vor den Grauen Tagen. Vielleicht kam ja daher der Name. Vielleicht war nicht nur das Wetter grau, sondern es war eben das reinste Grauen. Zumindest für sie.
Sie hatte sich im Laufe der Jahre immer besser an das gewöhnt, was immerwährend auf sie zu kam, wovor sie nicht flüchten konnte. Sie musste es überstehen. Fünf Tage Grauen für ein ganzes Jahr, in dem sie schön und friedlich leben konnte.
Und dennoch, mit dem, was sie dieses Jahr erleben musste, hätte sie niemals gerechnet. Die Seelen, welche durch die Landen streifen, wie zu jedem Jahr, sahen anders aus. Suchend, flehend, gequält. Viel Schrecklicher als alles, was sie in der Vergangenheit erlebt hatte.
Einige der Seelen trugen auch noch die Merkmale mit sich, wie sie ums leben kamen. Ein Messer im Bauch, einen Stick um den Hals, verbrannte Körper. Dies war neu. Nie sah sie den Seelen an, wie sie aus dem Leben schieden. Nie ihre Pein, ihre Qual. Sie schienen all die Jahre erlöst, gelöst, beinah zufrieden, dieses Leben hier abgestreift zu haben.
Auch sah sie keine bekannten Gesichter zwischen den ganzen Toten. Auch dies war mehr als ungewöhnlich. Sonst, in jedem Jahr, kamen immer die gleichen, bekannten, bleichen Gesichter bei ihr vorüber. Ihre Großeltern, Bekannte, Verwandte, Nachbarn. Dieses Jahr; nichts.

Ria hatte sich absichtlich ein Zimmer im Tala genommen. Sie würde es sich selbst nie eingestehen und auch vor niemandem aussprechen, doch noch immer hatte sie Angst vor dem, was sie an diesen fünf letzten Tagen im Jahr sehen konnte. Sehen musste. Und sie wollte nie an diesen Tagen alleine sein.
Im Tala war um diese Jahreszeit fast immer etwas los. Selbst bis tief in die Nachtstunden hinein waren Gäste in den beiden Schankstuben und am Tresen anzutreffen. Es schien, als wären die Bürger dieser Stadt im Winter einfach geselliger. Aber wer wollte es ihnen verdenken. Irgendjemand musste die Felder bestellen, das Holz für die Feuer im Winter schlagen oder Tiere erlegen, um über den Winter etwas Fleisch zum Essen zu haben.
Und dennoch… Dieses Jahr gefiel es ihr gar nicht. Es machte den Anschein, etwas stimmte nicht mit der Welt. Es schien, als würde das Gleichgewicht zwischen dieser und der nächsten Welt gestört sein, gar aus den Fugen gehoben. Aber warum, darauf konnte sich Ria keinen Reim machen. Und als ob diese Anblicke nicht schon schrecklich genug gewesen wären, machte ihr der Gedanke an ein gestörtes Gleichgewicht gleich noch viel mehr Angst. Es konnte nur eine Störung sein… Oder der Anfang etwas viel schlimmeren.
Doch im Moment brauchte sie sich darüber keine Gedanken machen. Besser gesagt, sie konnte nicht. Meist war ihr Gesicht wie erstarrt, angespannt von den Anblicken, die sich ihr boten. Ihre weißen Augen, sorgsam verborgen unter ihrem weißen Leinentuch, huschten stetig und niemals ruhend hin und her.
Und änderte eine dieser umherirrenden Seelen plötzlich die Richtung, kam auf sie zu, zuckte sie heftig in ihrem Stuhl zusammen, so dass die Lehne gegen die steinerne Wand hinter ihr krachte.
Interessierte es irgendwen, hier im Schankraum? Nein, niemanden. Niemand nahm wirklich Notiz von der jungen, blinden Frau, die, wie immer, an ihrem Tisch saß, auf ihrem Stuhl. Alle waren sie in Gespräche verwickelt, aßen etwas oder betranken sich. Jeder schien so unbekümmert und ausgelassen fröhlich. Warum auch nicht, niemand sah dass, was sie sah.
Nachts würde sie wieder nicht schlafen können, bekam kein Auge zu, da die Seelen auch durch ihr Zimmer wanderten. Keines der Wesen schenkte ihr Beachtung, kümmerte sich nicht um die junge Frau, die mit der Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen im Bett lag. Und wenn doch, gingen sie nach kurzem innehalten einfach weiter.
Was sagte Liandrel, den sie vor einigen Tagen im ehemals großen Yewer Wald kennen lernte noch? Der Mensch findet immer Wege, sich selbst zu töten. Oder so ähnlich. Sich selbst zu töten. Vielleicht auch, um sich selbst zu vernichten, zu zerstören. Vielleicht hatte dieses Mal wieder ein Mensch irgendetwas angestellt. Etwas gestört oder zerstört.
Aber dies waren Dinge, die sie niemals herausfinden würde. Sie konnte nur hoffen, dass diese fünf Tage schnell vorüber gingen. Einen Tag hatte sie ja schon geschafft.

Auch in den folgenden Tagen und Nächten bot sich ihr kein anderes Bild. Es schien gar, als suchten diese Seelen etwas. Ihren Peiniger? Richter? Oder die sehnliche Erlösung? Könnte sie doch nur mit ihnen sprechen, sie fragen, vielleicht könnte sie ihnen helfen. Aber wollte sie hören, was sie zu sagen haben?
Wahrscheinlich nicht. Bestimmt schrieen sie in ihrer Qual, erzählten wirres Zeug oder von ihrer Hinrichtung und zuhören täte ihr bestimmt keines dieser Geschöpfe. Sie hatten ja alle ihr eigenes Bündel zu tragen.
Sehnlichst hoffte Ria, vielleicht ihre Mutter oder Großmutter zu sehen, die Möglichkeit zu ergreifen, sie anzusprechen, es wenigstens zu versuchen. Groß waren die Fragen, groß die Sehnsucht, groß die Leere in ihr. Auch wenn ein Teil dieser Leere von Clas gefüllt wurde.
Es schien aber, dass sich ein Muster abzeichnete. In regelmäßigen Abständen kamen dieselben Seelen vorbei. Und je öfter sie es taten, desto weniger furcht war in ihrem Körper zu spüren. Weniger und weniger Furcht, eher Neugierde. Und dennoch…
Ansprechen würde sie keine dieser Seelen. So lange sie nicht Notiz von ihr nahmen, war sie sicher. Wer wusste schon, was geschehen würde, wenn man auf sie aufmerksam würde. Vielleicht übten diese Gestalten Rache am Leben, dass in ihr inne wohnte.

Fragen über Fragen. Das Leben war wirklich voll von ihnen. Am vierten Tag nahm sie schon gar nicht mehr richtig wahr, dass sie da waren. In diesem Jahr blieb ja auch keine Seele vor ihr stehen und sah sie lange an. Lange und durchdringend, dass es sie fröstelte. Alleine der Gedanke daran lies ihr schon einen Schauer über den Rücken laufen.
Vielleicht hatte dieses Jahr ja auch etwas Gutes. Zum ersten Mal in all den Jahren fand sie die Grauen Tage erträglich. Einzig, wenn ein Wesen durch sie hindurch schritt, fühlte sich ihr Blut wie Eis an. Dann stand sie für einige Augenblicke wie erstarrt da und rührte sich nicht mehr. So, als hätte sie der Blitz getroffen.
Und dennoch, es interessierte keinen einzigen Bewohner der Stadt. Als der Morgen nach dem fünften Tag graute und die letzte Seele in ihrem Zimmer oberhalb der Schankstube des Tala verblasste, machte sich dennoch eine Erleichterung in ihr Breit, wie sie es in all den Jahren zuvor noch nicht versprüht hatte.
Es war vorüber. Sie konnte endlich die Stadt wieder verlassen und in ihr kleines Blockhaus weit ab jeglichem Trubels gehen. Vielleicht würde sie es im nächsten Jahr endlich alleine überstehen können. Abseits der Schankstuben, wo sie Menschen tummelten.
Jedoch… So weit außerhalb der Stadt, alleine… Wo nicht nur Seelen umher wandeln sondern auch Gesindel jeglicher Art. Da war es in der Stadt wohl doch sicherer.
Nun musste sie erstmal Clas finden. Sie musste reden. Über das war in diesem Jahr geschehen war. Vielleicht hatte nicht nur sie dies hier alles so erlebt. Es gab bestimmt noch wen, dem es genauso erging.
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Alt 11.09.2012, 16:59
Suchend!
#3
Senria Frenn
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Kälte. Eisige Kälte. So musste sich der Hauch des Todes anfühlen. Und doch erwachte sie nur in ihrer kleinen Hütte, in der über Nacht das Feuer im Herd der Küche erloschen war. An den dünnen aber teuren Glasfenstern hatten sich schon Eisblumen gebildet, die als Zierde über das ganze Glas wuchsen.
Das Gebälk unter dem Dach war feucht und einzelne Tropfen hingen daran, kurz davor, hinab in die Tiefe zu stürzen. Eiskaltes Wasser, das wie eine Nadel stach, wenn es einem in den Nacken fiel.
Vor den Fenstern pfiff der Wind durch den kahlen Wald und wehte den Schnee vor sich her. Wer jetzt nicht musste, ging nicht vor die Türe. Vor Herd, Kamin oder Ofen war jetzt der schönste Platz auf der ganzen Welt. Warm, geborgen, geschützt. Ein wahres Geschenk und doch schätzten es viele nicht, dass sie nicht frieren mussten.
Die Welt war in ein unscheinbares, weißes Kleid gehüllt, dass schnell alle Spuren vertilgte und nichts zurück zulassen schien. Und doch, in weniger als zwei Mondumläufen war all dies wieder vergangen und das erste Leben spross aus dem Boden. Der Kreislauf lief und lief.

Was noch nicht so recht lief, war Ria. Diese Nacht hatte sie mehr als schlecht geschlafen, dort, auf dem Boden vor ihrem Herd. Immerhin der wärmste Platz im Haus. Und dennoch, auf ihrer Schlafmatte unbequem.
Lange trieben Gedanken sie wach umher. Sie starrte an die Decke, so würde man zumindest von einem Sehenden sprechen. Obwohl sie es nicht anders tat. Sie nahm die Decke eben nur anders wahr. Farblos, strukturiert, leuchtend.
Der erste Abend in dieser Schule für Magier war… verwirrend, aufschlussreich, erschreckend, lehrreich und abweisend. Alles mischte sich in ihr und nun, nach dem sie wach war, mehr oder weniger, gingen ihr wieder all diese Gedanken durch den Kopf.
Sie beugte sich etwas vor und nahm einen Holzscheit in ihre linke Hand, der unten, rechts neben dem Herd lag, wo er immer lag. Es mussten schon recht wenige sein, denn sie beugte sich sehr weit hinab. Bald musste Clas wieder etwas Feuerholz vorbei bringen.
Als sie das Holzstück in den Ofen schon und durch leichtes Pusten die Glut von neuem entfachte, schüttelte sie die Gedanken an Clas wieder ab. Es gab im Moment weitaus wichtigeres, über das es nachzudenken galt. Zum Beispiel darüber, was ihr Platz in diesem Spiel von Magie, Gewebe und Zauberei war. Gehörte sie dazu oder gehörten die anderen zu ihrem sein?
Mit dem Gedanken, sie könnte eine Magierin sein, wollte sie sich so recht nicht anfreunden. Magier hatte sie immer nur als eingebildet, selbstgefälligen Egoisten kennen gelernt, die Engstirnig nur ihre Lehren der Welt als richtig erachteten und mit ihrer Nase so hoch daher stolzierten, dass sie acht geben mussten, dass es nicht in ihre Nasenlöcher reinregnete.
Sie hielt kurz inne und raffte die Wolldecke enger um ihre Schultern. Was kam eigentlich bei diesem Unterricht, so wie die Herren es nannten, heraus. Nicht viel, was es zu verwerten galt. Alles Theorien, nichts bewiesen, Spekulationen und Mutmaßungen. Und doch pochten alle darauf, dass ihre die Richtige ist und alles so funktioniert. Und kaum warf man etwas zum nachdenken in die Runde, fielen sie über Ria her.
Und dennoch… Es gab ihr etwas zum nachdenken und lernen. Es hatte sogar Spaß gemacht, mit den anderen zu Diskutieren. Ihr Weltbild etwas ins wanken zu bringen. Und indirekt wurde sie ja für den nächsten Unterricht eingeladen. Zumindest hatte Ria das so aufgefasst.
Mittlerweile hatte sie etwas Wasser aus einem der Eimer geschöpft. Es schwabte ruhig bei jedem Schritt im Tongefäß hin und her. Ria war auf ihrem Weg vom Eimer zum Herd darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten geschweige denn, durch ihre Unachtsamkeit etwa das Feuer im Herd zum erlöschen zu bringen.
Aber wie immer ging es gut. Der Tontopf stand im Herd und würde sich langsam erhitzen. Ruhig tastete sie nach oben, dorthin, wo auf Leinen eine Unzahl an Kräutern trocknete. Irgendwann bekam sie etwas in die Finger, dass ihr von der Form her sagte, dass es das ist, was sie suchte. Noch eine kurze Geruchskontrolle an den großen, langen Stängeln mit den nun getrockneten, gelblich weißen Blüten und ihr war klar, dass sie einen Bund Kamillenblüten gefunden hatte. Diese würden einen herrlichen Tee abgeben.
Sie kramte einen hölzernen Becher neben dem Küchenblock hervor und stellte ihn auf die steinerne Anrichte. Immer noch hatte sie keine Möbel und so langsam fand sie es nervig. Irgendwann würde sie sich auch mal an einen Tisch setzen und nicht mit ihrem Hosenboden auf ihre Schlafmatte, um es nicht ganz so hart zu haben.
Etwas seufzend zupfte sie die Blüten von den Stängeln und gab sie in den Becher. Aus dem Herd hörte sie es schon leise blubbern, ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Wasser schon heiß genug für einen Tee war. Mit einem Stofflappen umfasste sie den Topf und goss vorsichtig etwas Wasser in den Becher. Sofort stieg ihr der Geruch nach Kamillen in die Nase. Der Duft nach Frühling und Frühsommer. Wie sehr sehnte sie sich danach, wieder Barfuss durch die Wiesen und Wälder zu streifen. Jetzt im Winter würde sie nur kalte Füße bekommen.
Mit dem Becher in den Händen drehte sie sich um. Mit ihrem Gesäß lehnte sie sich an die Kante der Arbeitsplatte an und pustete sachte in den ziehenden Tee hinein. Sie musste noch mehr in Erfahrung bringen. Lernen. Egal was, egal wo. Dieser Magierunterricht war eine gute Anlaufstelle, um zuzuhören, zu lernen und mit anderen ihre Gedanken auszutauschen. Und wenn es nur mit Ehrwürden Maniel wäre, immerhin konnte er zuhören und auch mal einen anderen Aspekt aufnehmen. Nicht wie die anderen, die sich für das höchste der Schöpfung zu halten scheinen. Elfen können eben mit ihrem Leben anders und entspannter umgehen.
Apropos Elfen. Sie freute sich schon auf ein neues Treffen mit Munar und… Dehfaschi… Ob sie diesen Namen je richtig aussprechen würde? Beides nette Elfen. Sie konnte auch da nur lernen. Und seit dem sie den Tee aus Mohn, Baldrian und Kamillen trank, war ihr Licht auf viel besser zu ertragen. Es tat nicht mehr in ihrem Kopf weh, blendete sie nicht mehr. Und dennoch warf sie sich selbst vor, ihre Sinne mit dem Tee zu betäuben, was sie nie machen wollte. Vorsätze sind einfach für den…
Vor Schmerzen verzog sie ihr Gesicht. Der heiße Tee hatte ihr Lippe und Zunge verbrannt. In Gedanken vertief fiel ihr nicht auf, dass es noch viel zu heiß war und nahm einen Schluck davor. Jetzt beschimpfte sie sich in Gedanken selbst. Sie musste wachsam bleiben, ob mit Tee oder ohne. Immerhin hatte sie auch weiterhin eine Aufgabe. Diese würde keiner von ihr nehmen. Nur musste sie neue Lehrer finden, da ihre Mutter nicht mehr war und es wohl keine Möglichkeit gab, mit ihrer Seele oder Geist in Verbindung zu treten.
Die Hand zu einem Löffel geformt nahm sie etwas kaltes Wasser in die Vertiefung und hielt sich diese vor den Mund, um ihre Brandwunden etwas zu kühlen. Es war ja zum Glück nicht so schlimm und sicher gleich vergessen. Was sie nicht vergessen durfte, war die Suche nach diesen Lehrern. Die Elfen waren da mit Sicherheit eine der ersten Anlaufpunkte. Sathrion, Munar, Dehfaschi, Liandrel. Sie konnte nur lernen. Lernen, so lange sie noch lebte. Lernen, was sie an Wissen fand. Und Abstrusitäten kennen lernen, die sie innerlich nur zum Kopfschütteln animieren würden.
Jetzt musste sie aber erstmal ihre Hütte aufräumen und dann Clas suchen. Das Feuerholz würde nicht mehr all zu lange vorhalten. Und wenn es in der Hütte zu kalt werden würde, gingen die Setzlinge mit Sicherheit ein.
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Alt 16.09.2012, 17:52
Unvern
#4
Senria Frenn
Reisender
 
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Vögel. Ich höre Vögelgezwitscher; dachte sich Ria, als sie schon früh morgens ihr Haus verließ. Endlich hörte man wieder kleine, balgende Vögel, die sich um irgendeinen Grashalm stritten, den der wochenlange Schnee endlich preis gab. Dies war eines der ersten untrüglichen Anzeichen, dass es bald Frühling werden würde. Und die Tatsache, dass der Cun bald vorüber war.
Bald schon würden die ersten Boten dieses Frühlings sprießen, Schneeglöckchen, Krokusse, vielleicht auch schon die ersten gelben Narzissen. Wenn sie mit ihren Fingern über die noch kahlen und kalten Äste der Bäume strich, konnte sie schon die ersten Knospen ertasten. Und den Harz, den die Bäume in diesem Jahr wohl im Überfluss hatten.
Immer mehr zog es sie tagsüber, wenn es schon leicht angenehm warm wurde, hinaus an die frische Luft und hinein in den Wald. Noch zeigten sich nicht viele Tiere, die meisten Bären waren wohl auch noch im Winterschlaf, Eichhörnchen und Kröten auch, aber hier und dort schoben sich Rotten von Wildschweinen durch den Wald, viele der Bachen garantiert trächtig. Und viele der Jäger leider dumm.
Jetzt, wo die Schonzeit beginnen sollte, machten sie vermehrt jagt auf die Tiere, weil sie, trächtig, langsamer waren und schneller erschöpft. Wenn sie nur endlich einmal, ein einziges Mal, so einen Jäger auf frischer Tat in die Finger bekommen könnte. Am liebsten würde sie die Pfeile aus einem Muttertier reisen und in seinen Körper spicken. Wie gesagt, am liebsten. Aber ihre Vernunft sagte ihr das Gegenteil. Aber eine Lektion würde sie demjenigen schon erteilen.
Einen Stein vor sich her tretend, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, ihren Eichenstab unter den linken Arm geklemmt, lief sie langsam der Stadt entgegen. In ihr sträubten sich zwar die Nackenhaare, alleine schon beim Gedanken, gleich wieder hinter diesen Mauern eingesperrt zu sein, aber was half es. Manche Sachen konnte sie einfach nicht herstellen und die Händler hatten nun mal ihre Geschäfte hinter den sicheren Mauern. So blieb ihr offenkundig nichts anderes übrig, als nach Britain zu gehen.
Unterwegs zog sie immer wieder kräftig die Luft durch die Nase ein. Es roch nach Harz und Tannen, die in der Sonne standen und ihre Nadeln reckten, es roch nach nassem, modrigem Gras, nach Wärme, Sonne; kurz gesagt, nach Frühling. Und je näher sie der Stadt kam roch es nach vergammeltem Fisch, Kloaken, Fäkalien, Schmutz und Schweiß. Keine schöne Begrüßung, wenn man von westen her auf die Stadt zukommt. Der Hafen war doch ein ziemliches Moloch und lag direkt hinter dem Westtor.
Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie den Geruch zum ersten Mal in die Nase bekam. Wie konnten Menschen nur freiwillig in so einem Viertel wohnen wollen? Das war doch Ekelhaft, in seinen eigenen Exkrementen dahin zu vegetieren. Unverständlich. Einfach unverständlich. Und ob sie sich je mehr als zwei Mal im Jahr wuschen, ist auch nicht klar zu beantworten. Ein siechender Ort, der immer wieder gut dafür ist, irgendeine Seuche auszubreiten. Und bei der Hand voll Heilern hier, würde wohl eine Großzahl an Menschen sterben.
Schon mit einer leicht finsteren Miene und absolut in ihre Gedanken vertieft, stapfte sie durch das Westtor. Die Wachen rührten sich nicht. Entweder, weil sie sie kannten, oder, weil ihre finstere Miene schon ausreichte, um ihren Gemütszustand auszudrücken und man von einer Kontrolle ihrer paar Habseligkeiten lieber absehen sollte.
Geradewegs steuerte sie den ersten Händler an, als ihr Magen sich meldete. Leise aufseufzend musste sie sich eingestehen, dass sie es heute Morgen völlig versäumt hatte, etwas zu frühstücken. Auch wenn es für sie nur Wasser, oder, im Moment einen Kräutertee und Brot gab, verlangte ihr Magen dennoch danach. So musste sie von ihrem Weg ablassen, den Tala ansteuern und ihren Magen beruhigen. Immerhin war der so quengelig wie ein Kind und gab erst ruhe, wenn er das bekam, was er wollte.
Nun musste sie doch etwas schmunzeln und ihre Laune hatte sich erheblich aufgebessert, als sie den Tala erreichte und sich rasch ein paar Scheiben Brot von Teresa geben lies. Sie wollte heute nicht mehr Zeit als nötig in der Stadt verbringen und der Besuch des Tala stand nicht auf der Tagesordnung.
Essen konnte sie draußen im gehen genauso gut wie drinnen im sitzen. Nur würde sie auf ihrem Weg, während sie aß, viel Zeit einsparen. Doch kaum draußen, den ersten Bissen im Mund, bemerkte sie jemanden, der zügig gen unteres Osttor ging. Von der Statur her, dem Geruch und der Haltung würde sie auf Rivian tippen.
Kurzerhand entschloss sie sich, dieser Person zu folgen und dabei ihr Brot zu verspeisen. Und wenn es wirklich dieser junge Jäger Rivian war, dann musste er noch mehr als nur ein bisschen was lernen. Im Wald sollte er nicht so viel Krach machen wie in der Stadt, sonst bekäme er keinerlei Wild zu Gesicht.
Vielleicht war es ja auch nur ein Bürger der Stadt, der ebenso wie sie, früh morgens ein paar Besorgungen gemacht hatte. Vielleicht ging er nur nach Hause und sie würde mal wieder ihre Zeit vertrödeln. Aber auf Vermutungen gab sie nicht viel. Wenn es nur ein Bürger der Stadt war, würde sie ihm bis zu seiner Haustüre folgen und ihn dann in Ruhe lassen. War es hingegen ein Jäger, würde sie ihn bis in den Wald verfolgen und sehen, wie er sich anstellte. Und ob er nur des Felles wegen jagte oder des Fleisches wegen und das Fell nur eine Zugabe war.
Mit jeder Minute wurde es klarer, die sie an den Häusern der Stadt, durch kleine und große Gasse, gingen. Er hielt weiterhin auf das Osttor zu. Er wollte die Stadt also verlassen. Oder sie… Aber vom Geruch her ein Mann. Weiblicher Schweiß riecht anders; dachte sie sich. Gerade, als sie kurz hinter diesem Mann das untere Osttor passierte, schon sie sich das letzte Stück Brot in den Mund. Die Wachen dürften recht überrascht geschaut haben, was eine kauende, blinde Frau so früh hinter einem Mann herläuft. Direkt in den Wald. Aber gerührt hatten sie sich trotzdem nicht.
Sie fragte sich schon, ob er sie wohl bemerkt hatte. Doch kaum war der Gedanke geboren, war er schon im Wald verschwunden. Innerlich fluchend, versuchte sie seine Spur aufzunehmen. Vor den Bäumen war das kein Problem. Zwar war kein Schnee mehr vorhanden, aber der tiefe, feuchte Boden nahm auch jeden Fußabdruck dankbar auf. Aber als sie die ersten Baumreihen erreichte, wurde der Boden fester. Und oben auf lag noch eine dicke Schicht Laub. Nicht wirklich der beste Untergrund, um Spuren aufzunehmen.
Still hockte sie sich an den Rand der ersten Baumreihe und horchte. So laut wie er in der Stadt war, so leise und umsichtig war er im Wald. Nicht das kleinste Geräusch, kein Knacken eines Astes, kein Husten, nichts. Es war zum Verrückt werden. Aber vom hier herum stehen würde sie ihn auch nicht finden.

Wie lange sie den Wald schon durchstriffen hatte, war ihr nicht klar. Mehr als eine Stunde auf jeden Fall. Und die ganze Zeit kein einziges Zeichen. Sie ging jedem Laut nach und fand nichts, jede Spur eines Stiefels führte ins Leere. So würde sie ihn niemals finden.
Und doch wollte ihr die Mutter wieder einen Faden in die Hände spielen. Der Schrei eines Hirsches, schmerzvoll verzerrt, Geräusche eines Kampfes, einer wilden Jagd und immer wieder der Aufschrei eines Hirsches.
Rasch eilte die junge Frau durch den Wald. Das feuchte Laub knirschte unter ihren Stiefel, wahrscheinlich flog es auch im hohen Bogen durch die Luft. Aber dies konnte sie nur erahnen. Ria hatte nur den Geruch nach Blut in der Nase, eine Menge Blut. Schnell bog sie nach links ab und stolperte fast über eine Wurzel, die versteckt unter braun-schwarzem Laub lag. Sie hastete auf eine Lichtung und roch das Blut nicht nur, sie schmeckte es auf ihrer Zunge. Überall auf dem nassen Laub war es verteilt, so intensiv wie der Geruch von allen Seiten auf sie einschoss.
Eine Blutspur führte Schnur stracks nach Osten. Ria hastete weiter, Äste aus dem Weg drückend, andere peitschten ihr ins Gesicht. Immer wieder stolperte sie über Steine und Wurzeln, zum Acht geben war keine Zeit. Die Blutspur wurde mit jedem Meter intensiver, die Tropfen größer. Und als sie an einer dicken Eiche vorbei schoss, schnaubte sie ein taumelnder, sich kaum noch auf den Beinen halten könnender Hirsch an.
So schnell sie konnte stoppte sie, nahm die Hände abwehrend nach vorne und ging selbst etwas Rückwärts, um den Hirsch nicht zu provozieren. Dieser stellte sich mit den gesenkten Geweih in Kampfhaltung vor ihr auf, macht einen kleinen Schritt und knickte mit dem linken Vorderlauf ein. Sein schnaufen war unkontrolliert, gehetzt, verängstigt. Der Hirsch musste schwer verletzt sein, sicher litt er auch, die Schmerzen mussten unerträglich sein.
Leise erhob sie ihre Stimme, redete beruhigend auf den nun mit beiden Vorderläufen auf dem Boden knienden Hirsch ein. Sprach von Angst, von Vergänglichkeit, dem Lauf des Lebens und der Mutter Schöpferin, die für alles einen Plan hatte. Dass er keine Angst haben musste, auch wenn sein Leben nun vorbei ginge. Und er dies auch wisse. Sie würde ihm helfen, so er es zu lies, sein Leiden verkürzen und ihn in die Freiheit seiner Ahnen entlassen.
Als würde der Hirsch dies verstehen, drehte er den Kopf nach rechts weg und entblößte so die rechte Seite seines Halses. Tief durchatmend ging Ria langsam vorwärts, behutsam, auf die Bewegungen des Hirsches achtend. Schon im gehen zückte sie ihr Messer. Das Geräusch beunruhigte wohl den Hirsch, denn er drehte den Kopf wieder zurück in Rias Richtung, die daraufhin stehen blieb.
Wieder redete sie ruhig auf den Hirsch ein, dass es nicht anders ging, sie ihn nicht beißen konnte und er sein Leid nur verlängere, wenn er sie nicht gewähren lassen würde. Ihre Stimme nahm einen so ruhigen, unbekannten Tonfall an, dass es sie fast ein die Ruhe eines Elfen erinnerte. Diese erhabene Ruhe, die sie immer und überall ausstrahlten.
Ob nun Kraftlos oder aus Verständnis senkte der Hirsch den Kopf auf den Boden, die Nase auf den feuchten Untergrund stützend. Er legt sich dabei zur Gänze ab, mit seinem Geläuf auf der linken Körperseite. Und sie ging langsam näher, wieder tief und ruhig durchatment. Sie war nun direkt neben dem Hirsch, kniete nieder, legte ihm vorsichtig die Hand an die Seite seines langen Halses. Er zuckte, sie spürte Blut, überall Blut. Langsam, zaghaft, aber nicht zögernd beugte sie sich vor. Kam seinem Ohr ganz nah. Leise, ganz leise sprach sie die Worte, die ihr Vater ihr beibrachte. „Du gibst dein Leben, damit andere Leben können. Dein Leben geht und lebst doch in allen deiner Nachfahren weiter. Geh hin zu den Ahnen und zu der Schöpferin, sei frei.“
Mit dem letzten Wort stach sie ihr Messer in des Hirsches Hals, direkt in die Schlagader, die zum Kopf hinauf führte. Mit einem Ruck war das Messer wieder aus dem Fleisch, es roch noch stärker nach Blut, es quoll in Strömen aus dem Hals. Noch ein kurzer, leiser Aufschrei, dann sackte der Kollos zusammen, legte sich auf die rechte Seite und tat seinen letzten Atemzug.
Ria pustete die Luft aus und nahm ihr Messer fester in die rechte Hand, ihre linke tastete über den Kadaver. Sie fand den ersten Pfeil, den Zweiten, den Dritten. Mit jedem Pfeil, den sie heraus zog, wurde ihre Verwunderung größer. Am Ende waren es zweiunddreißig und ihr Mund stand offen. Wie, bei der Schöpferin allem Lebens, hat das ein Jäger geschafft? Zweiunddreißig Pfeile in einem Hirsch. Der Jäger musste ewig auf den Hirsch geschossen haben, aber wie hat er das fertig gebracht? Ein Hirsch rennt doch weg? Oder wollte der hier seine Herde beschützen und steckte alles ein? Wenn dem so war, war der Jäger ein wahrer Stümper. Zweiunddreißig.
Sie bündelte die Pfeile mit einer Schnur und je länger sie darüber nachdachte, desto wütender wurde sie. Sie wollte ihm jeden einzelnen Pfeil irgendwo in seinen Körper spicken. Wer nicht jagen kann, soll an einer Hirschattrappe üben, wohin er schießen muss. Und die Pfeile steckten nicht tief im Fleisch. Falscher Bogen, zu wenig Kraft?
Das Fell war nicht mehr zu gebrauchen. Es war durchsiebt von Löchern der Pfeile. Aber immerhin konnte sie noch etwas Fleisch verwenden und brach den Kadaver auf. Sie nahm, was sie tragen konnte, den Rest lies sie den Wölfen und Aasfressern. Sie würden sich sicher rasch der Beute annehmen, so leicht hatten sie es sonst nie.
Mit ruhigen Bewegungen wischte sie ihr Messer an einem braunen Grasbüschel sauber. Jedoch wurden ihre Bewegungen immer langsamer, ihre Ohren zuckten. Ihr war, als hätte sie etwas gehört, als wäre jemand da, der sie beobachtet. Ihr stellten sich die Nackenhaare auf, eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Hier war jemand. Aber sie wusste nicht, wo.
Schließlich richtete sie sich auf und lehnte sich gegen eine dünne Birke, ihr Messer nun mit der Klinge nach hinten haltend, es jedoch seitlich am Körper führend und somit nicht in alle Richtungen preis gebend. Leise flüsterte sie die Worte, die ihr ihre Mutter beibrachte. „Bitte, Geister des Waldes, ich brauche Hilfe!“
Sie hörte, wie es rechts von ihr einmal leise knackte und dann nahm sie einen leichten Nebel wahr, der sich rasch verfestigte und die Form eines Bären annahm. Eines gewaltigen Bären. Bisher machten die Waldgeister dies nicht für sie, doch dieses Mal nahm einer von ihnen die Gestalt eines Grizzlys an. Und dieser schob sich an ihre Seite und lehnte sich friedlich an, so dass sie ihre Hand locker auf seinem Kopf abstützen konnte.
Sogleich zog der Grizzly die Nase zusammen und schien in alle Richtungen zu schnuppern. Ohne dass Ria aussprechen musste, was sie wollte, tat er, was er sollte. Und schon gab er ein gedämpftes Knurren von sich und ging, ja, schlenderte beinah gemütlich gen Norden los. Er hatte wohl eine Witterung und so überließ sie ihm die Führung.
Hastig hörte sie etwas knacken, Äste brachen, jemand schien rasch weg rennen zu wollen. Und der Bär hielt genau auf diese Richtung zu. Es war also wirklich jemand hier gewesen, hatte sie beobachtet oder es zumindest versucht. Nun galt es, ihn zu finden, aufzuspüren, zu befragen, zur Rede zu stellen, ob er den Hirsch so stümperhaft beschossen hatte, dass die meisten Pfeile nicht tief unter der Haut saßen und meist im Rücken oder Gesäß.
Aber wieder sollte es anders kommen. Mit jeder Stunde, jeder Minute, die sie mit dem Geist in Bärenform durch den Wald lief, suchend, schnüffelnd, horchend, sie fanden niemanden. Scheinbar lief diese Person wohl geradewegs in die Stadt. Sie bedankte sich bei dem Wesen, dass ihr half, konnte aber Zorn und Wut kaum im Zaum halten. Wieder einmal entkam ihr einer dieser Möchtegernjäger, die ihr Können überschätzten und dann das Wild sich selbst überließen. Und ob sie es nicht einmal wusste, wer dieser Stümper, der schlechte Schütze war, sie hatte eine mords Wut in sich auf Rivian. Sie war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich ein Mann war oder wer sonst, ihre gesamten Emotionen richteten sich auf diesen jungen Mann. So sehr die Vernunft auch in ihr schrie, so sehr hielt sie sich die Ohren innerlich zu.

Unvernünftig vor Wut war sie, ihr kochte die Galle im Hals. Auf dem schnellsten Weg ging sie nach Hause, kramte nach einem fetzen Papier, zerstampfte etwas Ginseng zu einem Mus und fügte noch ein paar Indigoblüten hinzu. Zwar sah sie keine normale Tinte, aber immerhin diese, die man magische Tinte nannte. Aber da sie keine zur Hand hatte noch wusste, wie man diese herstellte, behalf sie sich eben mit dieser Mixtur. Den Ginseng konnte sie sehen, war er doch noch vor kurzem eine intakte Wurzel, in der sich die Kraft des Lebens hielt. Und auch in dem Mus war sie noch immer in voller Stärke präsent.
Gut, diese Mixtur hatte einen Nachteil. Im Sommer stank sie nach wenigen Tagen nach verfaultem Gemüse, im Winter hielt sie sich recht lange und bei Temperaturen unter dem Punkt, an dem Wasser zu Eis wurde, sogar noch länger. Man sollte sie nur nicht lange in einem warmen Raum liegen lassen, sonst würde sie wieder, wie in den Sommermonaten, anfangen zu riechen.
So setzte sie also den Text auf, da sie nicht wusste, ob Clas zu Hause sein würde.
„Clas. Wo steckst du? Muss dringend mit dir reden! Ria.“
Mehr schrieb sie gar nicht, es musste reichen. Er würde sich melden oder gleich bei ihr vorbei kommen. Oder sie hatte Glück und er war zu Hause. Aber sie kannte ihr Glück in letzter Zeit. Immerhin konnte ihr nun kein Schnee mehr in die Stiefel fallen. Zum einen war kein Schnee mehr da, zum anderen hatte sie sich hohe Stiefel gekauft, die bis über die Knie gingen.
Aber im Moment war erstmal dieser Brief wichtig. Sie musste ihrer Wut Luft machen und wieder einmal war Clas derjenige, der dafür her halten musste, obwohl er nichts dafür konnte. Aber vielleicht konnte er alles wieder zu recht rücken. Immerhin hatte er versprochen, ihr immer und überall zu helfen. Er musste einfach.
Ohne, dass sie zu Hause ihren Mantel abgelegt hatte, knäulte sie den Zettel mehr zusammen als dass sie ihn faltete, stopfte ihn in ihre Manteltasche und warf die Türe fest hinter sich ins Schloss. Es war nicht weit, aber es reicht, dass mit jedem Schritt, den sie tat, ihre Wut nur noch größer wurde. Es war nicht die Wut auf den Jäger, oder dass Clas eventuell nicht zu Hause sein könnte. Es war mehr die Wut über ihre Hilflosigkeit. Könnte sie doch nur sehen. Aber so war sie immer von anderen Abhängig, auch wenn sie es noch so oft vorgab, es nicht zu sein. Manche Sachen konnte sie einfach nicht selbst erledigen. Zum Beispiel Leute finden. Diese mussten schon zu ihr kommen.
Drei mal klopfte sie an, fester, als sie es beabsichtigt hatte. Dann warten. Nichts rührte sich. Noch einmal klopfte sie, diesmal gesitteter, nicht wie ein Oger, der gleich mit der Tür ins Haus fallen möchte. Aber wieder rührte sich nichts. Clas war nicht da. Leise seufzte sie und Schob den kleinen Zettel gut sichtbar auf Augenhöhe in die Ritzen der Türbretter. Clas würde ihn hoffentlich sehen. Und wenn nicht, sie würde ihn schon in den nächsten Tagen erwischen. Jetzt musste sie aber noch rasch in die Stadt. Die ganzen Besorgungen blieben liegen und die Händler würden ihre Läden bald schließen. Wegen diesem ganzen Mist hatte sie den ganzen Tag vertrödelt und alles, was sie sich vorgenommen hatte, blieb liegen. Alles wegen dieses stümperhaften Jäger. Das machte die Wut auf ihn nur noch größer. Wehe, sie bekam ihn vor Clas in die Finger.
Senria Frenn ist offline  
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