09.09.2016, 15:58 |
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Reisender
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Heute war wieder einer dieser Tage, an dem die Arbeit kein Ende nehmen wollte. Zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft hatten sie heute auch eine Hochzeitsgesellschaft bewirtet. Es war eine schöne Feier gewesen. Das junge Paar hatte so glücklich miteinander ausgesehen. So verliebt. Unter gutmütigem Gelächter, Schulterklopfen und anzüglichen Witzen hatte es in den frühen Morgenstunden das Gasthaus verlassen; der Rest der Gesellschaft war nur ein paar Minuten später aufgebrochen. Nur Sie war zurück geblieben. Aber Sie gehörte auch nicht zu den geladenen Gästen. Ihr Platz war hier in der Küche, hinter Herd und Spüle. Hier im Gasthaus half Sie aus, verdiente sich Lohn und Unterkunft.
Die Ärmel ihrer Bluse bis über die Ellbogen hochgekrempelt und das lockige, hellblonde Haar mit einem roten, samtenen Haarband gebändigt und zu einem Zopf hochgebunden, stand Sie am Spülbecken, die Hände ins Wasser getaucht, und erledigte den Abwasch. Sie spürte bereits das Ziehen in ihren Schultern. Die leicht nach vorn geneigte Haltung, die sie nun schon seit gefühlten Stunden einnahm, strapazierte Muskeln und Sehnen. Und doch war noch kein Ende in Sicht. Während die Sonne sich am Horizont durch ein golden leuchtendes Band ankündigte und der Hahn den Misthaufen erklomm um sein morgendliches schrilles Konzert anzustimmen, ging Sie noch immer ihrer Arbeit nach, so wie sie es seit vielen Jahren gewohnt war. „Nelin, mein Mädchen.“ Orik, der alte Inhaber des Gasthauses, war in der Küche erschienen. Sie musste immer ein wenig Schmunzeln, wenn er Sie so nannte. Sie war vieles, doch mit Ende 30 gewiss kein junges Mädchen mehr. Und doch beharrte er auf diese Anrede. Vielleicht lag es daran, dass er sie als solches kennengelernt hatte. Ein Mädchen – nein, eine junge Frau – vor vielen Jahren, mit einem kleinen Sohn. Verzweifelt war sie damals gewesen. Hatte nicht gewusst, wo sie hin sollte. Allein, in einer fremden Stadt, mit wenigen Ersparnissen und einem kleinen Kind, welches Sie versorgen musste. Orik kennenzulernen war wie ein Gewinn in der Lotterie. Er hatte ihr ein Zimmer in seiner Gaststube unter dem Dach zugeteilt, welches Sie noch heute bewohnte. Hatte ihr Arbeit gegeben und sich gut um ihren Sohn und um Sie gekümmert. Nur ihr Herz hatte er, trotz seiner Versuche, nie erobern können. Denn ihr Herz war nicht mehr in ihrem Besitz. Es gehörte voll und ganz ihren beiden Männern. Dem Kleinen und dem Großen. „Nelin, mein Mädchen,“ sprach er erneut und riss Sie so aus ihren Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Mit müden Augen sah Sie ihn an. „Hast du die ganze Nacht durchgearbeitet?“ Ihr Blick glitt stumm rüber zu dem Berg an Geschirr, welches frisch gespült und sauber und ordentlich aufgestapelt war. Ein kleinerer Berg stand auf der anderen Seite des Spülbeckens, siffig und verdreckt. „Ich wollte nur noch den Abwasch erledigen.“ Plötzlich fühlte Sie sich unendlich müde – und alt. Orik schüttelte nur entschieden den Kopf. „Das kann auch Emilia erledigen. Sie tritt gleich ihre Schicht an.“ Mit diesen Worten nahm er ihr den Teller aus den Händen und stellte ihn zurück auf den dreckigen Stapel. „Ich habe hier noch etwas für dich. Es wurde gestern Abend für dich abgegeben.“ Mit diesen Worten reichte er ihr drei Briefe; zu einem Packen verschnürt. Ein wenig verwundert trocknete Sie sich die Hände an ihrer Schürze. Briefe? Für Sie? Sie bekam nie Briefe und jetzt sollten es gleich drei auf einmal sein? Wer sollte ihr schon schreiben? Doch die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz, ließ sie zusammenzucken. Wie vom Donner gerührt sah sie den Alten an. Korad! Eilig schnappte sie ihm die Briefe aus der Hand, sah auf den oberen und als sie sogleich die Sonntagsschrift ihres Jungen erkannte, waren die zwei weiteren Briefe schon vergessen. „Er ist von Korad,“ sprach sie leise vor sich hin, dann wiederholt sie den Namen. Ließ ihn sich wie eine süße Nachspeise auf der Zunge zergehen. Ihre Hände begannen leicht zu zittern und als sie zu Orik aufsah, standen ihr Tränen in den hellblauen Augen. „Tut mir leid, dass ich sie dir erst jetzt gebe…“ – er unterbrach sich – „geh, lies sie in aller Ruhe.“ Mit einem wortlosen Nicken verabschiedete Sie sich, verließ die Küche und schritt den Korridor entlang, der Sie bis zur Treppe führte, die Sie hinauf stieg um in ihr Zimmer zu gelangen. Es war eine einfache Stube mit eben solcher Ausstattung. Eine Waschecke, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Schrank, zwei Betten. Mit Liebe zum Detail hatte Sie diesem Ort etwas Heimeliges gegeben. Frische Blumen auf dem Tisch, Vorhänge an den Fenstern, Platzdeckchen, ein bunter Flickenteppich. Sie legte die Briefe auf dem Tisch ab. Dann zog Sie sich einen Stuhl heran und nahm Platz. Geschickt löste sie mit den Fingern den Knoten der Schnur, die die drei Briefe zusammen hielt. Als sie Korads Brief in Händen hielt, drehte und wendete sie den Umschlag hin und her. Roch gar kurz daran. Vorsichtig, als könnte sie bei einer falschen Bewegung den Inhalt zerstören, öffnete sie den Umschlag und holte den eigentlichen Brief heraus. Mit leicht geöffneten Lippen wanderte ihr Blick die schöngeschriebenen Zeilen entlang. Ein Lächeln zierte ihre Mundwinkel, Augenblicke später zog sie die Augenbrauen zusammen und blickte leicht zweifelnd drein. „Ich vermisse dich auch, mein Herz“, flüsterte sie, als sie den Brief beendet hatte. Dann lass sie ihn nochmal… und nochmal. Sie stellte sich vor, wie Korad an einem Tisch saß. Den Blick hochkonzentriert und wie er sich bemühte, jeden Buchstaben sauber und ordentlich auf Papier zu bringen. Er konnte gut schreiben, aber meistens neigte er dazu zu schlunzen. Dann sahen die Buchstaben aus wie hingeschmiert. Nicht jedoch bei diesem Brief. Sie war stolz auf ihren Sohn. Wehmut ergriff sie, als sie an ihn dachte. Wie gerne würde sie ihn wieder bei sich wissen. Nachdem sie Korads Brief zum zehnten Mal gelesen hatte, glitt ihr Blick zu den restlichen zwei Briefen hin. Diese hatte sie beinahe vergessen. Sie lehnte sich vor, griff nach dem zweiten, öffnete ihn und sah direkt auf die Unterschrift. Lydia Schimadt. Dieser Name war ihr völlig unbekannt. Ob es sich dabei um die von Korad erwähnte Reisebegleiterin handelte? Sie zuckte kurz zusammen. Hatte der Junge irgendwelchen Unfug angestellt, von dem er sich nicht zu schreiben traute? Ihr Blick glitt nach oben, zum Anfang des Briefes. Sie las den ersten Absatz, dann stieß sie einen erstickten Laut aus und der Brief segelte ihr aus der Hand, schwebte dem Teppich entgegen und blieb in einem halben Schritt Entfernung liegen. Mit klopfenden Herzen sah sie das Schreiben aus der Distanz an. Hatte sie das gerade richtig gelesen? Ihr Gemahl hatte die Knappin gebeten ihr ein persönliches Schreiben zu senden? Ihr Darok? Sie presste die Lippen aufeinander. Wie oft hatte Sie diesen Tag herbei gesehnt und gleichzeitig gefürchtet. Wie dumm war Sie gewesen, als Sie davon gehört hatte, dass er nach Gurdan gekommen war und auf der Suche nach seinem Sohn war. Das war nun… vier Jahre her? In einer Nacht- und Nebelaktion hatte Sie damals ihre Sachen zusammengerafft. Orik erklärt, sie müsse ihren Dienst quittieren. Dann war Sie mit Korad geflohen. Wovor? Sie fand selbst keine Antwort auf diese Art von Fragen. Vor Darok, ja, aber warum? Hatte Sie Angst gehabt, er würde ihr Korad wegnehmen? – Ja! Aber dabei war Sie doch diejenige gewesen, die ihm seinen Sohn als Erste entzogen hatte. Die einfach aufgebrochen war, nachdem er so lange Zeit in irgendwelchen Kriegen und Kämpfen verbracht hatte. Verschollen auf dem Festland. Sie ahnte um die Wunde, die Sie ihn damit geschlagen hatte. Tief und entzündlich. Ein Schmerz, der nicht verging und immer weiter vor sich hin schwelte. Aus dem Krieg hatte Er viele Narben und Wunden davon getragen, doch die schreckliste seiner Wunden, trug ihre Handschrift. Sie lehnte sich vor, griff mit zitternden Händen nach Lydias Brief. Ihre Augen glitten die letzten Zeilen entlang, ohne dass sie die Botschaft dahinter richtig verarbeiten konnte. Dann fiel ihr Blick auf den letzten Brief. Daroks Brief. Das Herz schlug ihr weiter schnell und kräftig in der Brust. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. Zögernd streckte sie die Finger nach Seinem Brief aus. Doch kurz bevor ihre Fingerspitzen den Umschlag berührten zuckte Sie zurück. Wollte sie diesen Brief überhaupt lesen? Was würde darin stehen? Die Kenntnis um den Inhalt des Briefes würde wohlmöglich alles verändern. Wollte sie diese Veränderung? Ganz gleich ob sie gut oder schlecht war? Sie stand von ihrem Platz auf, ging unruhig in der Stube auf und ab. Dann trat sie an das Fenster und blickte in den erwachenden Morgen. Sie traute sich nicht zurück zu sehen. Der Brief, der hinter ihrem Rücken auf dem Tisch lag, strahlte eine solche körperliche Präsenz aus, dass sie fast das Gefühl hatte, Darok höchstpersönlich würde hinter ihr stehen. Sie schloss die Augen und wankte etwas vor und zurück. Ihre Schwäche war der Müdigkeit geschuldet. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Das sagte ihr Kopf. Doch ihr Herz wusste es besser. Wusste, dass sie sich in dem Moment, in dem Darok hinter ihr stehen würde, sich an ihn lehnen wollte. So wie einst in seinem Turm. Als er sie um das Geheimnis seinen Schwertes einwies. Die Klinge, die zu singen begann, wenn ihr Herr das Heft berührte. Fast 20 Jahre war das nun her… Wie dumm Sie doch gewesen war. Sie hatte alles gehabt. Eine Familie, Freunde, ein schönes Haus in der Nordmark, eine Anstellung als Burgdame beim Greifenbund. Jetzt stand sie wieder ganz am Anfang. Sie hatte doch gewusst, wen Sie da heiraten würde. Einen waschechten Krieger. Eine vom Aussterben bedrohte Art, wenn Sie an die ganzen Jungspunde zurückdachte, die Sie durch Darok kennengelernt hatte. Und Sie hatte sich das prächtigste Exemplar von allen geangelt! Trotzdem war Sie sehr verletzt und verzweifelt gewesen, als er auszog in den Krieg. In ihrer Wunschwelt hatte Sie es sich wohl zurecht gelegt, dass er das Schwert an den Nagel hängen und bei seinem Sohn und ihr bleiben würde. Doch die Bindung zwischen ihm und Lorica währte bereits länger als die Bindung zwischen Ihm und Ihr. Also war sie weggelaufen. Hatte ihm das Kostbarste geraubt, was er auf dieser Welt hatte. Und Sie hatte nicht den Mut gehabt ihm gegenüber zu treten, als er Sie suchte und ihr so nah auf den Fersen war. Nein, mutig war sie noch nie gewesen. Stattdessen war sie geflohen. Drei Jahre lang hatte Sie alle paar Monate mit Korad ihren Standort gewechselt. Immer wieder waren ihr Gerüchte zu Ohren gekommen, dass ein alter Krieger auf seinem Schlachtross durch das ganze Land ritt und sein Weib und seinen Sohn suchte. Erst nachdem Sie einige Zeit keine neuen Gerüchte mehr gehört hatte, wagte Sie es nach Gurdan zurückzukehren. Orik hatte sich gefreut Sie wiederzusehen, nahm sie mit offenen Armen wieder in seinem Haus auf. Und dann begann die Zeit, in der sich Korads Fragen nach seinem Vater noch mehr häuften. Lange war sie ihnen ausgewichen ohne Darok zu verleugnen. Sie hatte ihm immer nur das nötigste erzählt. Doch die Jahre brachten es mit sich, dass Korad seinem Vater immer ähnlicher wurde. Sie hatte versucht dagegen zu steuern. Hatte versucht, Korad das Harfe spielen beizubringen – doch er war ein hoffnungsloser Fall. Als Mutter sollte sie so nicht denken. Aber es war eine Tatsache. Irgendwann merkte sie, dass ihr die Antworten ausgingen und Korad immer mehr darauf drängte seinen Vater kennenlernen zu dürfen. So musste sie diese Entscheidung treffen, die ihr unendlich schwer fiel. Sie ließ Korad ziehen… Langsam drehte sie sich um, ging zum Tisch zurück. Daroks Brief lag immer noch da. Ungeöffnet wirkte er so düster. Erneut streckte sie die Hand aus, nahm den Brief hoch. Er fühlte sich schwer an. Schwerwiegend war gewiss auch der Inhalt. Ihre Fingerspitzen strichen leicht über das unmarkierte Siegel. Dann brach Sie es mit einem leisen Seufzen. Das teure Papier fühlte sich gut an. Vorsichtig entfaltete sie den Brief. „Es tut mir so unendlich leid,“ flüsterte sie noch mit Tränen in den Augen. Dann begann sie zu lesen. |
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